„Ohne Vater wäre alles leichter“

Der brasilianische Regisseur Cao Hamburger zeigt im Wettbewerb seinen Film „Das Jahr, als meine Eltern im Urlaub waren“. Ein Gespräch über São Paolo im Jahr 1970 und die Entdeckung der eigenen schlummernden Geschichte

taz: Herr Hamburger, Ihr neuer Film „Das Jahr, als meine Eltern im Urlaub waren“ spielt im multiethnisch geprägten Stadtteil Bom Retiro von São Paulo. Warum dort?

Cao Hamburger: Bom Retiro ist der Stadtteil, in dem sich traditionell immer schon die Einwanderer angesiedelt haben. Zuerst kamen die Italiener, dann die Juden, die Griechen, dann die Araber. In den 70er-Jahren waren dort die Juden in der Überzahl, heute sind es die Koreaner. Von dieser Mischung, ihrem friedlichen Zusammenleben, ihrem gegenseitigen Respekt und ihrer Überzeugung, dass kulturelle Unterschiede einen Reichtum darstellen, wollte ich erzählen. Die Kultur Brasiliens lebt davon, dass Unterschiede zu Vorteilen werden.

Im Vergleich zu thematisch ähnlich gelagerten Filmen wie „Kamchatka“ von Marcelo Piñeyro (Argentinien 2003) oder „Machuca“ von Andrés Wood (Chile 2004) gibt es in Ihrem Film keine direkte Konfrontation mit der Militärdiktatur. Warum?

Ich wollte einen Film über den Übergang von der Kindheit zur Jugend machen. Diese Lebensphase gehört zu den wichtigsten rites de passage des Menschen. Unsere Persönlichkeit wird in dieser Phase stark festgelegt. Also richtete ich den Blick darauf, was mit der Figur des Mauro passiert. Die politische Situation der Zeit ist dieser Geschichte dienlich: Durch die Militärdiktatur wird die Stimmung der Geschichte authentischer, dichter und bedrohlicher. Ich will Menschen zeigen, die die Folgen dieser Geschichte erlebten, aber ich möchte keinen Film über diese Geschichte drehen.

Ihr Vater war Deutscher jüdischer Herkunft aus Berlin, Ihre Mutter eine katholische Italienerin, beide waren Atheisten. Warum dann ein Film über die jüdische Kultur?

Genauso wie Mauro im Film urplötzlich in die jüdische Gemeinde kommt und langsam in die Kultur hineinwächst, sie assimiliert und respektiert, habe ich erst sehr spät die jüdische Kultur richtig kennen gelernt. Für den Film wählte ich einen Drehbuchautor, der in Bom Retiro aufgewachsen ist und der jüdischen Kultur angehört. Wir haben die Geschichte dann zusammen entwickelt. Für mich war es eine persönliche Studie des Judentums, das zwar in mir schlummert, das ich aber nie gelebt habe. Ich wusste nie, ob ich mich damit identifizieren kann. Am Anfang wollte ich nur wissen, was ich so ganz nebenbei von dieser Kultur mitbekommen habe. Ich fragte mich: Was habe ich von meinen beiden Großvätern geerbt? Bei Mauro ist es ganz ähnlich: Er lebt plötzlich in der Wohnung des ihm unbekannten Großvaters und fragt sich, was er von ihm geerbt haben mag.

Der Film „Central Station“ des brasilianischen Regisseurs Walter Salles lief 1998 auf der Berlinale im Wettbewerb. Der Hauptdarsteller war ein kleiner Junge auf der Suche nach seinem Vater. Salles zitierte damals Nelson Pereira dos Santos, der vom abwesenden Vater als Metapher für Brasilien, für das brasilianische Kino spricht: Der Kolonisator ist fort, Brasilien ist sich selbst überlassen, der Film ist vaterlos. Sind Filme aus der Perspektive kleiner Jungen besonders erfolgversprechend?

Ich stimme Walter Salles zu. Bevor ich an diesem Film arbeitete, habe ich eine Miniserie über einen Vater mit drei Söhnen gedreht. Wie Pereira dos Santos habe ich eine Theorie über den brasilianischen Vater: Brasilien ist eine vaterlose Halbwaise. Unsere Mutter ist großzügig: eine üppige Natur, eine wunderbare Musik, eine Mischung der Ethnien, Fußball, Karneval. Aber unser Vater ist kein Vorbild und sorgt nicht für uns, denn er ist korrupt und egoistisch. Ohne Vater wäre alles leichter, aber wir haben nun mal diesen deformierten Vater. Aber: Ein kleiner Junge ist kein Erfolgsrezept. Im Film ist Erfolg nicht berechenbar.

Die Fußballweltmeisterschaft von 1970 spielt in „Das Jahr, als meine Eltern im Urlaub waren“ eine wichtige Rolle. Warum?

Brasilien und Fußball, das ist eine verrückte Verbindung. Fußball ist ein unberechenbarer Sport, oft muss improvisiert werden. Mauro lernt, dass das Leben wie ein Fußballspiel unvorhersehbar ist. Jeder Spieler muss bis zur letzten Minute kämpfen. Der Fußball rundet die Metapher des Films ab: Ist der Vater nicht da, wird trotzdem gekämpft.

INTERVIEW: UTE HERMANNS