Der Traum von einer besseren Welt

Wie ich in der spanischen Extremadura unter die Aussteiger geraten bin

Es gibt ein paar Sachen, mit denen ich nie wieder etwas zu tun haben will. Ganz oben auf der Liste steht das Wort Utopie. Gut zwanzig Jahre meines Lebens habe ich in einer Gesellschaft gelebt, in der angeblich alle gleich waren und die auf dem Glauben an einen besseren Menschen beruhte. Ich weiß, wovon ich rede.

Ganz im Gegensatz zu den Menschen, die den Versuch der Verwirklichung einer Utopie nicht am eigenen Leib erlebt haben. Ich habe gerade solche Menschen kennen gelernt. In einer Provinz in Spanien, die dem Thema Utopie alle Ehre macht: in der Extremadura. Ein Holländer aus Berlin hat sich mitten in den Bergen ein wunderschönes Fleckchen Erde gekauft und ich helfe ihm beim Bau seines Hauses. Der Holländer ist nicht das Problem. Er fastet zwar hin und wieder, wegen der inneren Reinigung, und ernährt sich dann ausschließlich von Tee aus selbst gesammelten Brennnesseln. Aber zum einen verschont er mich mit dieser Brühe. Und zum anderen fing er gerade wieder an mit Essen, als ich ankam.

Das Problem sind die Aussteiger. Spanier, Engländer, Deutsche, Franzosen. Männer und Frauen, die ihr ganzes Leben kreuz und quer durch die Weltgeschichte gereist sind, in den Hippiezeiten auf Ibiza und Gomera gelebt haben und schließlich in der Extremadura gelandet sind, in dieser wunderschönen Region westlich von Madrid, wo es mehr Olivenbäume und Ziegen gibt als Menschen. Ich habe ein Zimmer bei einer Deutschen, die ihren Lebensunterhalt mit Seidenmalerei bestreitet und gleich beim ersten Gespräch über ihre Suche nach einer Beziehung sprach, über die jüngeren und schlankeren Frauen, die ihr die Männer streitig machen, und über eine Katze, die psychisch erkrankte, als der Kater starb.

Aussteiger. Ich kann schon mit dem Wort nicht viel anfangen. Man kann aus einem Auto aussteigen, aus einem Geschäft oder aus einem Pokerspiel. Aber aus einer Gesellschaft? Liebend gerne wäre ich damals aus der DDR ausgestiegen wie aus einem Zug und hätte den anderen Passagieren eine gute Weiterreise gewünscht. Jetzt also die Aussteiger in der Extremadura. Die Männer mit den zu Pferdeschwänzen gebundenen grauen Haaren und die Frauen mit den bequemen weiten Kleidern. Sie sind auf der Suche. Auf der Suche nach sich selbst. Nach dem entlaufenen Hund. Nach dem Fuchs, der die Hühner holt. Nach einer Möglichkeit, ohne Strom für einen Kühlschrank über den Sommer zu kommen. Nach geschrotetem Dinkelvollkornbrot. Nach einem natürlichen Wasserfilter. Nach Gras zum Rauchen.

Am Sonntag waren der Holländer und ich bei einem spanischen Aussteigerpaar zum Mittagessen eingeladen. Wir saßen in ihrem selbst gebauten runden Holzhaus, in dem sie auf einem Holzofen kochen. Mit am Tisch saßen der Bruder des Spaniers und ein Perser, der nach zwei Monaten gerade aus London zurückgekommen war und nun seinen Schäferhund abholte. Wir aßen selbst gezogenen Salat, Keulen von freilaufenden Hühnern und tranken Saft aus Trauben, an denen der Schweiß ihrer Füße klebte, mit denen sie die Früchte bearbeitet hatten. So weit, so gut. Bis die Haschkekse auf den Tisch kamen.

Innerhalb von drei Stunden retteten die Aussteiger dreimal die Welt. „Man muss den Reichtum nur gerecht verteilen!“, sagte der Gastgeber und löste entschlossen den Gummi aus seinem Haar. „Die Menschen werden irgendwann auf die Straße gehen und nicht mehr mitmachen!“, verkündete sein Bruder und stützte sich auf seinen Wanderstock. „Eine gerechte Verteilung ist möglich!“, stellte der Perser fest und stimmte ein Lied auf der Gitarre an. Als ich fragte, warum sich niemand von ihnen für die anstehenden Kommunalwahlen als Kandidat aufstellen ließ, um die Welt erst einmal im Kleinen zu verändern, erstarb die Unterhaltung für einen Moment. „Nimm doch noch einen Keks“, bekam ich zur Antwort.

Am frühen Abend brachen wir auf. Bevor der Holländer und ich in unser Dorf zurückfuhren, mussten wir uns an der Suche nach einer verschwundenen Zigarettenschachtel beteiligen. „Sie hat eben noch hier auf dem Tisch gelegen“, sagte der Gastgeber immer wieder. Die Zigaretten blieben wie vom Erdboden verschluckt. Ich war mir ziemlich sicher, dass sein Bruder, der sich mit kleinen Arbeiten mehr schlecht als recht über Wasser hält, sie eingesteckt hatte. Ich hütete mich, diesen Verdacht zu äußern. Ich wollte ihnen ihren Glauben an eine bessere Welt nicht nehmen.

BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN

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