Estland im Cyberkrieg

Seit Tagen schon ist Estland das Ziel russischer Attacken – zum Glück nur in digitaler Form. Es ist die Fortsetzung der handfesten Unruhen um ein abmontiertes Sowjet-Denkmal in der Hauptstadt Tallinn

VON DIETER GRÖNLING

Dass ein bereits vor 60 Jahren errichtetes Denkmal jemals zu einem ernsten Konflikt zwischen zwei Staaten führen könnte, wäre hierzulande undenkbar. Anders in Estland, wo der 1947 von Russen erbaute „Bronzesoldat von Tallinn“ Ende März vom Stadtzentrum an einen estnischen Soldatenfriedhof am Stadtrand verlegt wurde. Während das Denkmal viele Esten an fünfzig Jahre sowjetischer Besatzung erinnert, sehen es viele Russen als Zeichen des Sieges der Roten Armee über Nazi-Deutschland und der Befreiung Estlands. Das führte in der Hauptstadt Tallinn und im 160 Kilometer entfernten Johvi zu Unruhen vor allem unter der russischsprechenden Minderheit, es gab viele Verletzte und einen Toten (die taz berichtete).

Seit ein paar Tagen werden die Internetseiten der estnischen Regierung pausenlos von Denial-of-Service-Attacken (DoS) attackiert, bei denen die Rechner durch massenhafte und koordinierte Anfragen aus dem Netz überlastet und damit lahmgelegt werden. Nun sind auch wichtige Banken und Tageszeitungen des Landes betroffen. Die Regierung lässt inzwischen den Zugriff auf die Webauftritte von außerhalb Estlands teilweise blockieren, um so die Angriffe ins Leere laufen zu lassen. „Wenn die Kommunikationszentrale eines Landes durch eine Rakete zerstört wird, nennt man das einen Kriegsakt. Wie nennt man es also, wenn dasselbe Ziel durch einen Cyber-Angriff erreicht wird?“, formulierte es ein Regierungssprecher.

Ermittelt ist der Urheber trotz wilder Spekulationen jedoch nicht. Nach Angaben des Antiviren-Unternehmens F-Secure kommen ein paar der protokollierten IP-Adressen von einem russischen Regierungsrechner. Das heißt jedoch noch nichts, denn für derartige Angriffe werden oft Botnets, also gekaperte Rechner, in aller Welt benutzt. Eine seriöse Zurückverfolgung ist damit kaum möglich. Die russische Regierung wies die Vorwürfe auch umgehend zurück und sagte, die Angreifer hätten womöglich gefälschte IP-Adressen des Kremls benutzt, um die Regierung zu kompromittieren.

Inzwischen trug der estnische Verteidigungsminister Jaak Aaviksoo den Fall noch einmal in Brüssel beim Treffen der EU-Verteidigungsminister vor und forderte eine deutliche Reaktion der EU. Auch die Nato hat er eingeschaltet. Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffe wertet Cyberangriffe jedoch nicht als militärische Aktionen, weshalb sie auch nicht unter die in Artikel 5 ausgeführte Verpflichtung zur gemeinsamen Selbstverteidigung fallen. Und Russland hat vor dem Gipfeltreffen mit der EU davor gewarnt, die Probleme einzelner Staaten wie Estland auf die Gesamtbeziehungen der Europäischen Union zu Moskau auszuweiten. Der EU-Beauftragte des Kremls, Sergej Jastrschembski, meinte am Mittwoch, einige neue EU-Mitgliedsländer hätten „unprofessionelle, junge Regierungen“, die eigene „Komplexe“ auf die EU-Russland-Ebene zu übertragen versuchten.

Ein paar Wochen zuvor hatte schon der Gazprom-Manager Gerhard Schröder in ungewohnt scharfer Form den Abriss des sowjetischen Kriegerdenkmals in Tallinn kritisiert: „Es ist stil- und pietätlos, wie in Estland mit dem Gedenken an junge russische Soldaten umgegangen wird, die ihr Leben im Kampf gegen den Faschismus verloren haben“, sagte er bei einer Gewerkschaftsveranstaltung im fränkischen Riedenberg. Ein derartiger Umgang mit der Erinnerung an die Toten „widerspricht jedem zivilisierten Verhalten“. Gerade diejenigen, die russische Politik unter Berufung auf westliche Wertvorstellungen kritisierten, „sollten jetzt nicht schweigen“, erklärte Schröder. Offenbar sieht er die Dinge inzwischen durch die russische (Gazprom-)Brille.

Dabei ist der Verdacht, dass Russland hinter allem steckt, gar nicht so abwegig – wenn auch nicht direkt die Regierung. Die Putin-treue Jugendbewegung Naschi („Die Unseren“) war treibende Kraft bei den Auseinandersetzungen in Tallinn. Zuletzt blockierte Naschi wochenlang die Botschaft des EU-Staats Estland in Moskau. Zentraler Aspekt der Organisation ist der staats- und regierungstragende Gedanke – auch über Putins Amtszeit hinaus. Ein Ziel von Naschi ist die Verhinderung des Übergreifens einer Orange Revolution wie in der Ukraine auf Russlands Jugend. Sämtliche Aktivitäten der Organisation werden von kremlnahen Fernsehsendern wirksam in Szene gesetzt und vom Umfeld des Kremls finanziert – ganz wie einst bei der Hitlerjugend.