Auf der richtigen Seite

Angst und Wut trieben Friederike Hausmann am 2. Juni 1967 auf die Straße. Doch das hat sie längst aus ihrem Kopf verbannt. „Man muss nicht immer die Welt verändern“, steht heute an ihrer Pinnwand

VON KOLJA MENSING

Berlin, 2. Juni 1967. Auf dem Platz vor der Deutschen Oper haben sich über dreitausend Demonstranten eingefunden, als Reza Pahlevi, der Schah von Persien, mit seiner Frau um 19.56 Uhr aus einem Mercedes steigt und das Opernhaus betritt. Auf dem Spielplan steht die „Zauberflöte“. Zunächst erklingt allerdings die persische Nationalhymne. Die Zuschauer erheben sich zu Ehren des Schahs von ihren Plätzen. Im gleichen Moment beginnt die Polizei damit, draußen gewaltsam die Versammlung der Demonstrantenaufzulösen.

Ein Stoßtrupp stürmt auf den Platz, Wasserwerfer empfangen die fliehenden Demonstranten. Ein Teil versucht über die nahe gelegene Krumme Straße zu entkommen. Unter ihnen ist der Student Benno Ohnesorg. Er ist zum ersten Mal auf einer Demonstration.

Polizisten prügeln mit Gummiknüppeln auf Studenten ein, unterstützt von persischen Geheimpolizisten, die mit Dachlatten und Eisenrohren angerückt sind. Benno Ohnesorg beobachtet, wie Beamte einen Mann in einen Hinterhof zerren. Zusammen mit anderen folgt er der kleinen Gruppe. In dem Hof kommt es zu einem Handgemenge, plötzlich fällt ein Schuss. Der Polizeibeamte Karl-Heinz Kurras hat den unbewaffneten Benno Ohnesorg mit seiner Dienstpistole in den Kopf geschossen. Vor Gericht wird er sich auf Notwehr berufen und freigesprochen werden.

Es gibt ein Foto, das den sterbenden Benno Ohnesorg zeigt. Neben ihm kniet eine Frau in einem langen schwarzen Kleid. Sie sieht aus wie eine Opernbesucherin, die aus Versehen unter die Demonstranten geraten ist.

München, im April des Jahres 2007. Die Tür zum Garten des alten Hauses steht offen. Es ist ein warmer Abend, Amseln singen, und zwischen den Bäumen und Büschen treten aus der Dämmerung die Schatten der Vergangenheit hervor. „Ich komme nicht los von dem Foto“, sagt Friederike Hausmann. „Es verfolgt mich.“

Friederike Hausmann ist heute 62. Immer wieder hat sie sich in den letzten 40 Jahren entdeckt, in Zeitungen, Zeitschriften und Schulbüchern. Keine Reportage, kein Beitrag zur Geschichte von Achtundsechzig ohne die Schwarzweißaufnahme von ihr und Benno Ohnesorg, dem ersten Opfer aus den Reihen der Studentenbewegung.

Es ist ein historischer Augenblick. Nach dem tödlichen Schuss auf der Demonstration an der Deutschen Oper in Berlin schlagen die vereinzelten Kundgebungen gegen den Vietnamkrieg und die verkrusteten Strukturen an den deutschen Hochschulen in Massenproteste um. Doch das Foto, auf dem Friederike Hausmann wie ein zorniger Engel neben einem Märtyrer kniet, dokumentiert noch etwas anderes. Es ist der Moment, an dem sich ein Leben von Grund auf ändert, der Wendepunkt, an dem eine ganz normale Nachkriegsbiografie plötzlich vom Wirbelsturm der Zeitläufte erfasst wird: „Ich bin in eine Radikalität getrieben worden, die mir einfach nicht entspricht.“ Das ist die Kurzfassung der Geschichte.

Das Gespräch fängt zögernd an. Friederike Hausmann redet nicht gerne über das Foto, sie redet nicht gerne über den Tag, an dem der Schah von Persien nach Berlin kam, und sie redet auch nicht gerne über die Jahre, die danach kamen. Ihr Gesicht ist älter geworden, der Zorn ist Bitterkeit gewichen. „Augenzeugen sind die schlechtesten Zeugen“, sagt Friederike Hausmann, als ginge es immer noch darum, was damals in dem Hinterhof wirklich passiert ist. „Dunkle, hastende Gestalten, das ist das Einzige, an das ich mich erinnere.“ Sie steht vom Küchentisch auf und schließt die Tür zum Garten. Aber die Schatten der Vergangenheit haben ihren Weg bereits gefunden.

Friederike Hausmann, damals Friederike Dollinger, ist gerade noch ein Kriegskind. Sie wird im März 1945 geboren, und hinter ihrem Namen verbirgt sich die Hoffnung auf bessere Zeiten: Friederike, „die Friedensfürstin“.

Das erste Jahr ist die Mutter allein mit ihr. Dann kehrt der Vater aus der amerikanischen Gefangenschaft zurück. Er hat bereits vor dem Krieg am Theater gearbeitet, jetzt übernimmt er die Leitung des Stadttheaters in Mainz, um 1950 beim Bayerischen Rundfunk Intendant des Studios Nürnberg zu werden. Es ist eine steile Karriere. Der Vater genießt den Aufstieg in die bessere Gesellschaft, die sich bei Sektempfängen und Premierenfeiern vom Krieg erholt. Friederike hat eine anstrengende Kindheit: „Ich musste Benimm lernen bis zum Gehtnichtmehr.“

1957, das Wirtschaftswunder ist mittlerweile auf dem Höhepunkt, zieht die Familie nach München, in die Gründerzeitvilla mit dem großen Garten, nur ein paar hundert Meter vom Schlosspark Nymphenburg entfernt.

Es ist das Haus, in dem Friederike Hausmann heute wieder lebt, zusammen mit ihrer erwachsenen Tochter, einer Freundin der Tochter und einem Studenten, dem sie ein Zimmer untervermietet hat. Heimat einer Patchworkfamilie, WG und Familiensitz. Im Wohnzimmer stehen ledergebundene Klassiker aus dem Bücherschrank der Eltern und Pasolinis „Unter freiem Himmel“, an der Wand hängen gerahmte Fotos ihrer Eltern und Großeltern und im Flur an der Pinnwand über dem Telefon ein handgeschriebener Zettel: „Wer hat die Schere aus der Küche?“

Friederike Hausmann ist zurück in das Haus gekommen, als ihr Vater und ihre Mutter Anfang der Neunziger gestorben waren. Die Achtundsechzigerin hat das Erbe ihrer Eltern angetreten, zumindest äußerlich: „Leicht war es nicht.“ Ihre Rebellion gegen die Welt des Bildungsbürgertums hatte spät eingesetzt. Als Teenager kauft Friederike „Blue Suede Shoes“ von Elvis Presley und streitet sich mit ihren Eltern, die keine Rockmusik in ihrem Haus dulden. Kurz vor ihrem Abitur liefern sich in Schwabing Jugendliche Straßenschlachten mit der Polizei, und es gibt den ersten richtig großen Krach zu Hause. Friederike trägt Secondhandmode, und ihr Vater fürchtet um seinen Ruf: „So kannst du nicht herumlaufen.“ 1964 macht sie Abitur und geht nach Westberlin: „Ich hatte immer das Gefühl, München und mein Elternhaus, das ist nicht das wahre Leben.“ Die Begegnung mit der Wirklichkeit ist ein Schock. Friederike Dollinger wohnt im dritten Hinterhof, mit Kohleofen und Toilette auf halber Treppe, die Leute auf der Straße sehen arm und grau aus.

Als Studentin der Freien Universität engagiert sie sich in ihrer Fachschaft und setzt sich für Änderungen in der Studienordnung ein. Mit der Revolution hat das alles noch nichts zu tun: „Die ersten Sit-ins fanden damals wegen des schlechten Mensaessens statt.“

Von den Anfängen der Studentenbewegung bekommt Friederike Dollinger nichts mit. Sie ist kein politischer Mensch. Sie stellt ihren Eltern keine Fragen über den Nationalsozialismus; die Gründung der Kommune 1 und die ersten Proteste gegen den Springer Verlag, das alles interessiert sie nicht. Über den Vietnamkrieg liest sie nur in der Zeitung, und als das Amerika Haus in Berlin mit Farbbeuteln beworfen wird, ist das für sie nur eine Nachricht unter vielen.

Dann kommt der Sommer 1967. Und alles wird anders.

Am Vorabend des 2. Juni soll der Publizist und Exiliraner Bahman Nirumand in Berlin auf Einladung des Astas im Audimax der FU reden. Gerade ist sein Buch „Persien – Modell eines Entwicklungslandes“ erschienen, eine scharfe Abrechnung mit dem Regime von Mohammad Reza Schah Pahlevi. Die iranische Botschaft legt Protest gegen die Veranstaltung ein, bessere Werbung kann es nicht geben. Mehr als 2.000 Studenten haben sich im Hörsaal und davor versammelt. Nirumand spricht über den Terror der iranischen Geheimpolizei Savag, die Hilfsdienste der CIA und die Geschäfte der amerikanischen und deutschen Industrie mit dem Land. „Mir fiel es wie Schuppen von den Augen.“ Friederike geht es wie vielen anderen im Publikum. Nach dem Vortrag weiß sie, dass sie am nächsten Tag demonstrieren muss.

Der SDS hatte angekündigt, dem Schah einen „würdigen Empfang“ zu bereiten. Am frühen Nachmittag des 2. Juni trifft der Schah am Rathaus Schöneberg ein. „Mörder, Mörder!“, rufen die ersten Demonstranten und werden dafür von Agenten des Savag zusammengeschlagen. Friederike befindet sich zu diesem Zeitpunkt in der Universität, um sich für eine Prüfung anzumelden. Das Studium geht vor, für sie beginnt der Protest erst am Abend. In ihrer WG in Moabit wechselt sie die Kleidung. Sie zieht ein schwarzes Abendkleid an, dazu einen traditionell bayrischen Überwurf aus Wolle, und legt die goldenen Ohrringe an, die sie von einer Ägyptenreise mitgebracht hat. Friederike verkleidet sich, um sich unter die Opernbesucher zu mischen. Der Trick funktioniert nicht. Als sie sich auf den Weg macht, ist der Platz vor der Deutschen Oper längst abgeriegelt.

Die Polizei beginnt, die Studenten auseinanderzutreiben. Friederike Dollinger rennt davon. Sie ist zum ersten Mal auf einer Demonstration. „Ich hatte Angst“, sagt Friederike Hausmann. „Vor allem aber eine Wahnsinnswut.“ Als sie sich in ihrer Küche in München an den Abend vor vierzig Jahren erinnert, blitzt noch einmal der Zorn in ihren Augen. Genau wie auf dem Foto.

Sie rennt, aber immer wieder bleibt sie stehen und schreit die Polizisten an, die auf wehrlose Demonstranten einknüppeln. Friederike, die „Friedensfürstin“, befindet sich im Krieg. Zufällig landet sie in dem Hinterhof in der Krummen Straße, ein paar hundert Meter von der Oper entfernt. „Ich bin einfach nur den anderen gefolgt.“

Es ist nicht das erste Mal, dass Friederike Hausmann die Ereignisse vom 2. Juni beschreibt. Manche Sätze klingen wie auswendig gelernt, Formulierungen, an denen sie sich festhält, um sich nicht im Dunkel der eigenen Vergangenheit zu verlieren. Dann wieder winkt sie ab: „Im Grunde genommen kann ich mich an gar nichts erinnern.“

Der Ausgang des Hinterhofs ist versperrt, um sie herum herrscht Panik. Greiftrupps der politischen Polizei überwältigen einzelne Demonstranten. Plötzlich sieht sie vor sich am Boden einen jungen Mann liegen. Friederike Hausmann kniet sich neben ihn. Sie schiebt ihm ihre Handtasche unter den Kopf und ruft nach einem Arzt.

In diesem Moment drückt der Fotograf Jürgen Henschel auf den Auslöser. Friederike bemerkt nichts davon. Auch den tödlichen Schuss hat sie nicht gehört. „Mir ist damals überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass der Mann auf dem Boden im Sterben lag.“ Zwei Polizisten zerren sie von Benno Ohnesorg weg. Zurück auf der Straße, sieht sie das Blut an ihren Händen, eines der wenigen Details, die sie auch heute noch genau vor Augen hat.

Den Namen des sterbenden Mannes erfährt sie erst zwei Tage später. Und dann sieht sie das Foto, zunächst im FU-Spiegel, dem Mitteilungsblatt des Astas. Ihre Eltern entdecken sie in einer Tageszeitung. „Sie haben sehr zurückhaltend reagiert.“ Keine Vorwürfe, kein Mitleid, keine Fragen. Auch sonst hat sie nur mit ganz wenigen darüber gesprochen. „Es ging schließlich nicht um mich.“

Sie sagt das heute noch so, als ob sie wirklich daran glaubt. Dabei ist dieser Satz die vielleicht größte Lüge in Friederike Hausmanns Leben. Eine Lüge, die für die nächsten Jahre ihr Leben bestimmen wird. Ab jetzt geht es nicht mehr um sie, sondern um „die Sache“. Um die „Analyse der Verhältnisse“. Um „Vietnam“, um „Chile“. Und um die „Revolution“.

Nach dem 2. Juni beschließt Friederike, in den SDS einzutreten. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund, der zum Sammelbecken der neuen Linken geworden ist, macht es ihr nicht leicht. „Es war wie im Geschichtsstudium, erst musste man sich mit den Hilfswissenschaften beschäftigen.“ Also arbeitet sich Friederike innerhalb weniger Wochen durch den ersten Band des „Kapitals“, um sich auf die Aufnahmeprüfung vorzubereiten. „Ich kann Ihnen das Exemplar mit den Anstreichungen gerne zeigen!“ Anschließend stellt sie sich einer Runde von Funktionären, die meisten sind in ihrem Alter, und beantwortet die Fragen nach dem „Gebrauchswert der Arbeit“ und dem „tendenziellen Fall der Profitrate“. Friederike besteht die Prüfung. Eine Zeitlang wohnt sie sogar in einer Wohnung über der Geschäftsstelle des SDS am Kurfürstendamm. Das Private wird politisch. Alles wird jetzt politisch.

Friederike erledigt Büroarbeiten, entwirft Flugblätter und besucht Seminare. Gemeinsam mit anderen liest sie Arthur Rosenbergs „Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik“, Marx und Lenin und die einschlägige KPD-Literatur. Und sie geht weiter auf Demonstrationen, die jetzt immer größer werden. „Es war berauschend. Wir hatten das Gefühl, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.“

Die Sprecher der Studentenbewegung sind Männer. „Das war eine reine Führerbewegung“, sagt Friederike Hausmann, leicht abfällig, und schwärmt dann doch von Rudi Dutschke und dem Neffen von Allende, dem „schönen Chilenen“ Gaston Salvatore. Einer der „Führer“ wird ihr Freund: Ulrich Hausmann, der sich beim SDS in Tübingen einen Namen gemacht hat und dann nach Berlin gekommen ist. 1971 heiraten die beiden. Ulrich ist Mitglied in der KPD/AO, dort legt man dem Paar die Ehe nahe: „Die hielten das für den Ausdruck proletarischer Lebensweise.“

Ein hübscheres Beispiel für das spießbürgerliche Fundament von Achtundsechzig dürfte es kaum geben. Schöne Pointe, eigentlich. Friederike Hausmann findet das allerdings nicht komisch: „Nein, das ist keine schöne Pointe.“ Und das war der einzige Grund für die Hochzeit? „Das geht mir jetzt zu weit“, sagt Friederike Hausmann und verschränkt die Arme vor der Brust.

Es ist einer der Momente, die es an diesem Abend in dem Haus in München immer wieder gibt. Fragen, die sie nicht beantwortet, weil sie ihr zu privat sind, Sätze, die nach zwei oder drei Wörtern abbrechen, Erinnerungen und Jahreszahlen, die sich wie die „hastenden Gestalten“ in dem Hinterhof im Dunkel jener Sommernacht verlieren. Nur das Foto von der schönen Frau und dem sterbenden Studenten, das gerade wieder einmal überall gedruckt wird, ist noch genauso scharf und kontrastreich wie vor 40 Jahren. Etwas erzählt sie dann doch. Als Friederike ihren Ehemann Ulrich nach der Hochzeit ihren Eltern vorstellt, bekommt ihr Vater einen Wutanfall: „Seine einzige Tochter hatte einen mittellosen Taugenichts geheiratet.“ Die Studentenbewegung ist zu diesem Zeitpunkt längst in der Auflösung begriffen. Gewalt ist eine von mehreren Optionen. Andreas Baader und Gudrun Ensslin hatten mit anderen bereits 1968 in Frankfurt zwei Kaufhäuser angezündet. Baader wird verhaftet und im Mai 1970 mit Hilfe der Journalistin Ulrike Meinhof befreit. Die Gruppe nennt sich jetzt RAF, Rote Armee Fraktion. Parallel dazu verfolgen Georg von Rauch, Michael „Bommi“ Baumann und Thomas Weissbecker das Konzept der „Stadtguerilla“. Die „Haschrebellen“, wie sie sich zunächst nennen, propagieren Anschläge auf den Staat und seine Repräsentanten. Friederike kennt Georg, er war ihr Vormieter in einer Wohngemeinschaft in Schöneberg. Er wird festgenommen, kann entkommen und wird im Winter 1971 nach einem Schusswechsel mit der Polizei erschossen, ganz in der Nähe seiner alten WG. Die militante Linke macht Georg von Rauch zu ihrem Märtyrer, genau wie Benno Ohnesorg, und seine Mitstreiter agieren nun unter dem Namen „Bewegung 2. Juni“. Um Friederike herum beginnen die Toten zu tanzen, aber für Gefühle ist damals kein Platz. Benno Ohnesorg, Georg von Rauch, das sind nur Namen, selbst im Rückblick. Das Gespräch in der Küche ihrer Münchener Wort bekommt immer wieder den Charakter einer zähen Geschichtsstunde, mit Daten und Fakten, die mühsam in eine Ordnung gebracht werden wollen.

Achtundsechzig, folgende. Das ist die Zeit, in der vor allem viel geredet wird. Innerhalb der zerbröckelnden studentischen Linken streiten Maoisten, Traditionalisten und antiautoritäre Zirkel über die richtige Auslegung der marxistischen Lehre, und schließlich löst sich der SDS Anfang 1970 auf.

Friederike und Ulrich gehören zu den Maoisten. Friederike wird Mitglied der „Liga gegen den Imperialismus“, einer Unterorganisation der KPD/AO. Der gesellschaftliche Umsturz, da sind sich Friederike, Ulrich und ihre neuen Genossen einig, ist jetzt zum Greifen nahe. Mit Maos „Theorie der drei Welten“ überzeugen sie sich gegenseitig davon, dass der revolutionäre Funke von China, Kuba und Chile demnächst auch auf Europa und die Bundesrepublik überspringen wird.

„Damals galt man als Defätist, wenn man sagte, es dauert noch zehn Jahre.“ Und daran hat sie wirklich geglaubt? „Natürlich.“ Kein Lachen, nur ein bitteres Lächeln über die verlorene Zeit: „Wir waren so naiv.“

Ulrich ist Parteisoldat. Als die KPD/AO ihn nach der Heirat nach Stuttgart beordert, gibt es keine Diskussionen. Friederike und er ziehen um. Von nun an verteilen sie Flugblätter und rote Fähnchen an übermüdete Schichtarbeiter: „Für mich war es eine Heldentat, morgens um vier Uhr aufzustehen, um nach Untertürkheim vor die Fabriktore zu fahren.“

Friederike ist keine Vollzeitrevolutionärin. 1969 hat sie ihr Staatsexamen gemacht, 1972 schließt sie ihre Promotion ab. Jetzt könnte sie Lehrerin werden, doch mittlerweile gibt es in der Bundesrepublik den sogenannten Radikalenerlass. Sie bekommt Berufsverbot.

Ein Jahr später bricht sie mit der „Liga“. Es gibt politische Differenzen. Friederike will sich nicht damit abfinden, dass die Maoisten den Reformsozialisten Allende nach dem Putsch in Chile zum Abweichler erklärten: „Er ist selbst schuld, hieß es damals.“ Und sie hat begriffen, dass sie und ihre Genossen die Menschen, die sie erreichen wollen, niemals erreichen werden. „Die Arbeiter nicht und auch nicht die Studenten.“

Friederike verlässt Stuttgart und geht auf Abstand zu Ulrich.

Und dann? – „Wir reden morgen weiter“, sagt Friederike Hausmann.

Am nächsten Tag sind wir in Neugilching verabredet, einem aufgeräumten Vorort von München. Hier arbeitet Friederike Hausmann seit 2004 an einem Gymnasium und unterrichtet neben ihrer Arbeit als Übersetzerin und Publizistin pro Woche ein paar Stunden Latein und Geschichte. Nach ihrer Einstellung haben ein paar Kollegen sie angesprochen: „Sie sind doch die Frau von dem Foto.“ Dann druckte die Süddeutsche Zeitung das Bild vergangenes Jahr noch einmal, zusammen mit ihrem Namen, und daraufhin wusste es dann jeder Lehrer und jeder Schüler. „Ein Spießrutenlauf.“

Über dreißig Jahre nach ihrem Berufsverbot hat Friederike Hausmann es doch noch an eine staatliche Schule geschafft und konnte zuletzt noch den „langen Marsch durch die Institutionen“ antreten, den Rudi Dutschke einst propagiert hatte.

Doch diese Parolen sind längst zu ironischen Wendungen und die Revolutionäre von damals sind für viele zu Witzfiguren geworden. Sogar wenn man selbst dazugehörte. Die S-Bahn-Verbindung nach Neugilching hat Friederike Hausmann auf einem Arbeitsblatt für den Geschichtsunterricht ausgedruckt. Auf dem Blatt geht es um die Unterschiede zwischen Kapitalismus, Sozialismus und Kommunismus. „Um eine Gesellschaft ohne Klassen zu haben, muss als Erstes die Arbeiterklasse befreit werden und die Macht übernehmen!“, ruft darauf ein cholerisches Comicmännchen mit Lederweste, Mao-Mütze und rotem Stern.

Es ist ein sonniger Nachmittag. Friederike Hausmann schlägt einen Ausflug nach Kloster Andechs vor. Mit dem Auto ist es nur eine halbe Stunde. Auf der Fahrt durch die malerische Landschaft erzählt sie von ihrem Abschied von der Revolution, der „Liga“ und den Genossen. Es ist eine kurze, traurige Geschichte. „Seitdem weiß ich, wie sich Menschen fühlen, die aus einer Sekte austreten. Ich war sehr allein, und ich war sehr unglücklich.“

Friederike zieht an den Chiemsee und arbeitet für viel zu wenig Geld an einer Privatschule. Es gibt vorsichtige Annäherungen an Ulrich, der die K-Gruppen mittlerweile ebenfalls hinter sich gelassen hat, dann gehen sie wieder auf Abstand, und schließlich lassen sie sich scheiden.

In den Siebzigern führt Friederike einen langen Kampf, um das Berufsverbot aufheben zu lassen. Ihre Eltern sind auf ihrer Seite, wohl auch weil sich hier ein Kreis schließt, über zwei Generationen hinweg. Ihre Mutter ist Grundschullehrerin. Während des Zweiten Weltkriegs, der Vater war bereits an der Front, hatte sie auf dem Schulhof eine Bemerkung fallenlassen, die nicht auf der Linie der Partei lag und war strafversetzt worden, aus Nürnberg in ein entlegenes Dorf auf dem Land.

Inzwischen hat Friederike ihren Eltern natürlich Fragen gestellt über die Zeit des Nationalsozialismus. Viel erfahren hat sie nicht. Vielleicht gab es einfach nichts zu erzählen. Vielleicht hatte Friederike auch genug mit der Verdrängung ihrer eigenen Vergangenheit zu tun. Die Erinnerung an den sterbenden Benno Ohnesorg auf jeden Fall hat sie nach dem 2. Juni aus ihrem Kopf verbannt. Sie hat keinen Kontakt zu seiner Witwe aufgenommen, sie war nicht bei der Beerdigung in seiner Heimatstadt Hannover und hat bis heute nicht sein Grab besucht.

Warum? – Friederike Hausmann zuckt mit den Schultern.

Einen Moment gab es, am Tag zuvor an ihrem Küchentisch, als die Geister von 1967 sich plötzlich losgerissen haben und in ihrem Kopf zu spuken begannen. Friederike Hausmann redet über die Ereignisse am Tag der Demonstration vor der Oper, und dann verspricht sie sich bei einem Straßennamen. „Unter den Leichen“, sagt sie und verbessert sich: „Unter den Eichen.“ Später zeigt sich bei einem Blick auf den Stadtplan, dass die Straße ganz am anderen Ende von Berlin liegt. Man muss kein Psychoanalytiker sein, um zu verstehen, dass Friederike Hausmann am Abend des 2. Juni 1967 gerne an einem anderen Ort gewesen wäre.

1977 wird ihr Berufsverbot tatsächlich zurückgenommen. Der Prozess hatte sich lange hingezogen, und schließlich hatte die Landesregierung in letzter Minute eine Einspruchsfrist verstreichen lassen. Damit ist Friederike so gut wie eingestellt. Wenige Tage vor dem Ende der Sommerferien bekommt sie Bescheid, dass sie im nächsten Schuljahr unterrichten darf. Doch für Friederike ist es zu spät. Sie hat bereits ihre Koffer gepackt, um die Bundesrepublik zu verlassen und mit einem Stipendium als Historikerin nach Italien zu gehen. „Ich hatte die Nase voll von Deutschland.“

In Italien beginnt Friederike Hausmann noch einmal von vorne, ohne Mao, Radikalenerlass und Benno Ohnesorg. Sie lernt die Sprache, feiert, reist und vergräbt sich in Florenz in Dokumente über den deutsch-italienischen Außenhandel vor dem Ersten Weltkrieg.

Aus der angestrebten Habilitation wird nie etwas werden, aber dafür verwandelt sich ihr Leben plötzlich in einen leicht kitschigen Liebesroman. Zumindest für eine kurze Zeit.

Friederike Hausmann besucht eine Freundin, die sich auf Giglio niedergelassen hat, einer kleinen Insel in der Nähe von Elba. Dort lernt sie den Fischer Angelo kennen. Sie verliebt sich und will ebenfalls auf Giglio bleiben. „Das war eine richtige Aussteigerfantasie. Ich dachte, ich lasse alles hinter mir, nicht nur Deutschland und die Politik, sondern auch die Wissenschaft.“ Doch Angelo spielt nicht mit.

1984 ist es darum wieder einmal Zeit für einen Neuanfang. Friederike Hausmann geht zurück nach Deutschland. Sie zieht nach München, in die Stadt, in der sie aufgewachsen ist. Ganz ist der italienische Roman allerdings nicht zu Ende. Sie fährt noch einmal nach Giglio. Als sie zurück nach München kommt, ist es mit Angelo wirklich vorbei. Und sie ist schwanger.

Friederike Hausmann hat bereits in Italien angefangen zu übersetzen. Jetzt schreibt sie ihr erstes Buch. 1985, in dem Jahr, in dem ihre Tochter Tonia geboren wird, erscheint im Wagenbach Verlag ihre Monografie über den italienischen Freiheitskämpfer Garibaldi, den Mann, der Italien zur Einheit verhalf. Mit der Bundesrepublik hat sie inzwischen auch ihren Frieden gemacht. „Ich hatte das Gefühl, dass ich in ein anderes Land zurückgekommen bin. Offener, leichter.“

Ob es nicht einfach daran lag, dass sie selbst offener geworden war? Dass sie eine Tochter hatte und einen spannenden Beruf, anstatt mit einer Handvoll verbohrter Maoisten von der Weltrevolution zu träumen? – Noch ein Schulterzucken: „Kann sein.“

In den kommenden Jahren verfasst Friederike Hausmann unter anderem eine „Kleine Geschichte Italiens“, schreibt über „Die deutschen Anarchisten von Chicago“ und das Bombenattentat von 1886 und beschäftigt sich mit „Machiavelli und Florenz“. Außerdem übersetzt sie – Petrarca, Umberto Eco, Andrea Camilleri – und unterrichtet nebenher an Privatschulen, bis sie schließlich am Gymnasium von Neugilching angestellt wird.

Inzwischen sind wir im Kloster Andechs angekommen, Ausflugsziel Nummer eins in der Umgebung. Um uns herum im Biergarten haben sich Touristen und Rentnerehepaare zur Brotzeit eingefunden, auf dem Tisch stehen Wurst, Obatzter und Brezn. Friederike Hausmann erzählt von dem historischen Roman, den sie schreiben will, über Maria Carolina von Österreich und ihre Zeit am Hof von Neapel, und von ihrem Plan, irgendwann vielleicht wieder nach Berlin zu ziehen. Einfach so.

„Man muss nicht immer die Welt verändern“, auch das steht zu Hause in München auf einem Zettel an ihrer Pinnwand.

Hier oben, auf dem „heiligen Berg“ und im hellen Sonnenlicht eines viel zu warmen Frühlingstages bekommt die Biografie von Friederike Hausmann zuletzt doch noch eine gewisse Leichtigkeit. „Es gibt diesen Satz von Benedetto Croce“, sagt sie. „Das Leben ist wie alles gemischt aus Gutem und Bösem.“

Noch einmal streifen wir die Brüche und Wendungen, Umwege und Wiederholungen, reden über Strafversetzungen und Berufsverbote, über Nazis und Kommunisten, über Secondhandmode und Abendkleider und über ihre Tochter, die nach dem Abitur mit dem „Lonely Planet“ im Gepäck durch Südamerika gereist ist, durch die Länder, die Friederike Hausmann vor vielen Jahren mit der Mao-Bibel in der Hand befreien wollte. Wir plaudern über die Schlagwörter und Phrasen von gestern und über die Genossen, die heute in Werbeagenturen arbeiten oder für Springer-Blätter schreiben. Oder gerade in Rente gehen.

Ist es nicht merkwürdig, dass die jugendlichen Revolutionäre von damals plötzlich alt werden?

Es ist eine beiläufige Frage, doch sie wirft einen harten Schatten auf das Gesicht von Friederike Hausmann. „Es ist nicht merkwürdig, älter zu werden“, sagt sie. „Es ist furchtbar.“ Und noch einmal ist da der Zorn in ihren Augen. Wie damals auf dem Foto, auf dem sie für immer 22 ist.

KOLJA MENSING, Jahrgang 1971, ist freier Autor und lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihm der Erzählband „Minibar“ im Verbrecher Verlag, Berlin, 127 Seiten, 13 Euro