Alles über Deutschland in 900 Stunden

SOZIALES Deutschland diskutiert über „Integrationsverweigerer“, die die vorgeschriebenen Deutschkurse angeblich schwänzen. Wie sieht die Realität aus? Ein Besuch in einem Integrationskurs

„Schauen Sie sich meine Schüler an, die sind alle lernwillig“

LEHRER ATAMAN DALAMAN

VON CASPAR SCHLENK

a) kümmern, b) sorgen, c) interessieren, d) leben. Ruben Ramirez brütet über dem Übungssatz: „Viele Ausländer glauben, dass die Deutschen sich nur für ihre Arbeit …“ Ramirez lacht und ruft: „Antwort c) ist richtig.“ Lehrer Ataman Dalaman hakt nach und fragt, wofür sich die Deutschen sonst interessieren. „Fußball“, „Bier“ und „Autos“, rufen die Teilnehmer des Jugendintegrationskurses im Wedding durcheinander. Am Ende der Diskussion beschwichtigt Dalaman: „Wir dürfen nicht verallgemeinern, wir wollen nur darüber reden.“

Im Integrationskurs in der Volkshochschule (VHS) sollen die Jugendlichen in 900 Stunden Sprache und Land kennenlernen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte vor einigen Wochen die Kurse als wichtiges Integrationsinstrument gepriesen. Bei der Umsetzung hapert es jedoch, sagen Kritiker: Zu lang seien die Wartezeiten, bemängelte unlängst etwa Berlins Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD). Zu niedrig die Bezahlung der Lehrer, befindet die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lässt diese Einwände nicht gelten. Es verweist darauf, dass die Mittel für die Kurse in diesem Jahr um 59 Millionen Euro aufgestockt worden seien.

Qualitativ guter Unterricht

In puncto Qualität sei der Unterricht sogar besser als in vielen Schulen, da viele der Kursleiter „Deutsch als Fremdsprache“ an der Uni gelernt hätten, betont Barbara John, die ehemalige Ausländerbeauftragte des Berliner Senats. Lehrer Dalaman zum Beispiel hat in Istanbul Germanistik studiert und unterrichtet seit 25 Jahren Deutsch. Den Jugendlichen im Wedding bringt er jede Woche Grammatik, Hörverständnis und Sprechen bei.

An der Tafel steht: „Ich lerne Deutsch …“, und die Schüler müssen den Satz vervollständigen. „… damit ich mich mit meiner Frau unterhalten kann“, sagt Ramirez. Der 21-Jährige hat eine deutsche Frau und ein kleines Kind. „Ich bin vor allem wegen der politischen Lage aus Kuba weg“, sagt der Deutschschüler. Auch seine Nachbarin Alina Creta hat einen deutschen Freund. Daneben sitzt Mildred Etiediem aus Kamerun, die ihrem Mann nach Deutschland gefolgt ist. Ihr gegenüber beugt sich Ahmet Bayran aus der Türkei über sein Vokabelheft. Bayran lebt schon seit zwei Jahren in Deutschland und will deutscher Staatsbürger werden.

Zwischen den Grammatikübungen stellt der 68-jährige Lehrer immer wieder einfache Fragen über Deutschland oder die Heimatländer seiner Schüler – um die Jugendlichen zum Sprechen zu bringen. So kommt das Gespräch schließlich auf Esskulturen. „Woher kommt eigentlich der Döner?“, fragt Ramirez. Dalaman antwortet, eigentlich käme das Gericht aus dem arabischen Raum, sei aber in Berlin sehr verbreitet – in der Türkei dagegen nicht. „Mittlerweile machen die Deutschländer in Istanbul und Ankara Imbisse auf“, sagt der Lehrer. Mit „Deutschländern“ meint er Menschen mit türkischen Wurzeln, die aus Deutschland den Weg zurück in die Türkei suchen.

Wenn Dalaman über seine Schüler spricht, rutscht ihm manchmal der Ausdruck „meine Kinder“ heraus. Auch wenn die jungen Erwachsenen gerade mal 17 bis 26 Jahre alt sind, ist Dalaman so etwas wie ein Vater für sie. Er organisiert alle Jugendkurse an der VHS, für jeden Schüler gibt es in seinem Schrank einen eigenen Ordner. Öfters muss er den Unterricht unterbrechen, weil neue Schüler seine Unterschrift brauchen, einmal kommt ein Junge vorbei und will Übungsblätter für seine schwangere Freundin holen. „Schauen Sie sich meine Schüler doch an, die sind alle lernwillig“, sagt Dalaman, wenn die Sprache auf sogenannte Integrationsverweigerer kommt.

Er räumt jedoch ein, dass rund ein Fünftel der Jugendlichen die Kurse abbrechen würde, ein durchaus häufiger Grund sei beispielsweise Schwangerschaft. Das Bundesinnenministerium spricht deutschlandweit von rund 30 Prozent der berechtigten Migranten, die den Kurs entweder abbrechen oder nicht erscheinen.

Prüfung nicht bestanden

Mildred Etiendem aus Kamerun hat zwar ihren letzten Kurs nicht abgebrochen, allerdings hat sie die Prüfung nicht bestanden. Etiendem sagt, ihre Schwangerschaft sei ein Grund gewesen.

■ Die Bundesregierung will die Anforderungen an Ausländer zur Integration verschärfen. Das sieht ein am Mittwoch verabschiedeter Gesetzentwurf vor. So müssen Ausländerbehörden vor einer Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis feststellen, ob ein Ausländer seiner Pflicht zur Teilnahme an Integrationskursen nachgekommen ist. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) erklärte, künftig sollten die Strafen für „Integrationsverweigerer“ konsequenter angewendet werden. Sie könnten letztlich bis zum Entzug des Bleiberechts reichen.

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„Die Zeit war nicht so einfach für mich“, so Etiendem. Geschickt wurde die 22-Jährige vom Jobcenter, das Neuzuwanderer zu dem Integrationskurs verpflichtet kann. Tischnachbarin Alina Creta lebt seit neun Monaten in Deutschland. Vor einem halben Jahr hat sie mit dem Kurs begonnen. „Dadurch hat sich mein Deutsch sehr verbessert“, betont Creta. Nach der Prüfung will die 24-Jährige im sozialen Bereich arbeiten. Im Gegensatz zu ihrer Nachbarin aus Kamerun ist die Rumänin EU-Bürgerin und hat deswegen einen Anspruch auf den Kurs. Das heißt jedoch nicht, dass sie auch sofort einen Platz bekommt. Derzeit warten rund 9.000 Menschen in Deutschland auf einen Kurs, sagt Regina John vom BAMF.

Lange Wartezeiten

Auch der Berliner Politik ist das Problem bekannt: Man habe das Bundesamt auf die Benachteiligung der „Lernwilligen“ hingewiesen, heißt es von der Senatsverwaltung für Bildung. Laut der Verwaltung beziehen viele der Wartenden auch Leistungen vom Arbeitsamt. Ihre Lösung: Das Jobcenter verpflichtet mehr Zuwanderer zum Kurs – so hätten sie einen sofortigen Anspruch.

Der Kurs von Ramirez geht bereits dem Ende entgegen: In dieser Phase ist ein zweiwöchiges Praktikum vorgesehen, beispielsweise in einer Bibliothek, Apotheke oder bei einem Steuerberater. Vor der längeren Unterrichtspause beschäftigen sich die Schüler mit einer Bildergeschichte in einem Lehrbuch. Sie erzählt von zwei Jugendlichen in einem Imbiss, die immer wieder vom Pech verfolgt werden. Erst vertauscht Maya die Gerichte, die Nasir ausliefern soll, und dann fällt ihr unbemerkt ein Schlüssel ins Essen. Ramirez kommentiert das mit einem Sprichwort aus Kuba: „Ich mache langsam, weil ich keine Zeit habe.“ Die jungen Erwachsenen im Wedding haben noch zwei Monate Zeit, in denen sich zeigen wird, wie erfolgreich der Integrationskurs war.