Nie ohne mein Publikum

Der Pornostar, der die Lust verliert: Patrick Wengenroth inszeniert im HAU 3 gleich in vierfacher Ausführung die göttliche Schlampe Patty Diphusa von Pedro Almodóvar

„Manchmal vergisst eine Frau, dass sie eine Bombe ist“, sagt Patty Diphusa und vergisst es selbst doch äußerst selten. Der spanische Filmregisseur Pedro Almodóvar hat Anfang der Achtzigerjahre die schillernde Femme fatale als Fortsetzungsgeschichte für die Zeitschrift La Luna erfunden. Jetzt setzt Patrick Wengenroth sie auf die Bühne des HAU 3.

Patty Diphusa ist ein internationaler Pornostar. Ihren Hunger nach Leben kann keiner stillen, sie selbst am wenigsten. Sie sucht, was sie durcheinander bringt, weil genau das sie stimuliert. Sie betreibt Raubbau an ihrem Körper, achtet aber stets auf einen frischen Teint. Sie schläft mit Unzähligen, doch lässt keinen an sich ran.

Patrick Wengenroth garniert Pattys Geschichte mit Udo-Lindenberg-Songs, von Matze Kloppe am Flügel dargeboten, und spaltet die Figur in vier Schablonen auf. Vor weißen Vorhängen treten sie auf der nahezu leeren Bühne nacheinander im Rotlicht auf, um vor dem Publikum zu monologisieren, denn eine Patty Diphusa kennt kein anderes Gegenüber als ein Publikum.

Arnd Klawitter zeigt eine empfindsame, naive Patty, von unwiderstehlich zarter Weiblichkeit. Er legt so behutsam seine Unterarme frei, als seien es Göttinenbrüste. Klawitters Patty Diphusa lässt sich von einer Vergewaltigung kaum berühren. Der Schlag ins Gesicht trifft eben dieses, aber doch nicht irgendeine Seele. Die Ereignisse sind sie selbst, mehr nicht.

Loretta Stern verkörpert dagegen den Prototyp des Porno- und Popstars. Sie strahlt über das ganze Püppchengesicht mit Platz für mehr als einen Schwanz zwischen ihren weißen Zähnen und vollen Lippen. Sie singt vom Horizont und kann auch dann nicht damit aufhören, als man ihr das Mikrofon ausstellt, denn sie existiert nur, solange sie gesehen wird. Sie muss von der dritten, von Anne Retzlafs Patty vertrieben werden, die in schwarzen Stiefeln und Hotpants kommt. Sie ist hektisch, mit stets angespannten Muskeln. In ihren Erzählungen zeigt sich ihre Sucht nach Aufmerksamkeit, ihr Unvermögen, außerhalb des Mittelpunktes zu leben und ohne gutes Make-up. Die vierte Patty Diphusa (Vivien Mahler) erinnert dann schon stark an Gudrun Ensslin, als sie Bedingungen formuliert und die Gitarre wie ein Maschinengewehr hält. Patty überlebt sich selbst, die Schöne wird zum Biest, dem die Lust abhanden gekommen ist.

Präzise, ernst und voller Humor stellen die vier Schauspieler dieses Kunst- und Traumprodukt Patty Diphusa dar, unter großem körperlichem Einsatz, mit Mut zur Peinlichkeit und gewaltigem Sexappeal. Patrick Wengenroth zeigt einen Menschen, der zum Kunstwerk, ein Leben, das zur Inszenierung wird. Mit dem Untersuchen des Wie statt des Was, der Form statt des Inhaltes folgt sein Ansatz einem Trend, der sich nicht nur in der Medienwelt, sondern auch in Kunst und Wissenschaft zunehmend etabliert hat. Vielleicht, weil die Analyse der äußeren Erscheinungsbildes der Dinge immer noch die größten Chancen auf wahre Aussagen birgt. Wenn aber nichts mehr wirklich ist und die Bedeutung allein mit der Anzahl der Beobachter steigt und fällt, dann ist auch nichts ernst zu nehmen, erst recht nicht man selbst. Die schwarz-weiß-rote Kitschwelt zwischen Rampe, Pianist und Tüll, in die Patrick Wengeroth seine Patty Diphusa stellt, bleibt eine schöne Verpackung.

So teilt der Zuschauer Patty Diphusas anfängliche Gier nach den Reizen der Oberflächen ebenso wie ihren späteren Ekel am Nichts, der aufkommt, wenn das Leben zu konsequent durch seine Inszenierung ersetzt wird.

CORNELIA GELLRICH

Im HAU 3, 22.–25. November, 20 Uhr