Der Zahnrad-Effekt

In Israel gibt es ein radikales und ein zionistisches Friedenslager. Jetzt nähern sich ihre Positionen wieder an. Anmerkungen zu einer Rede des Schriftstellers David Grossman

Die Frage ist nicht, mit wem man reden soll. Wichtiger ist, worüber man mit den Palästinensern reden sollteDie zionistische Linke sucht stets die Nähe zum Konsens. Sie war deshalb anfangs für den Krieg im Libanon

Vor zwei Wochen, bei der jährlichen Gedenkfeier für Jitzhak Rabin, hielt der Schriftsteller David Grossman eine wichtige Rede. Darin empfahl er dem Ministerpräsidenten: „Reden Sie mit den Palästinensern, Herr Olmert. Reden Sie mit ihnen über die Köpfe der Hamas hinweg. Reden Sie mit den Moderaten unter ihnen!“ Zur selben Zeit verteilten Aktivisten von Gusch Schalom, die sich unter die Menge gemischt hatten, Aufkleber, auf denen stand: „Frieden macht man mit Feinden. Redet mit der Hamas!“ Diese beiden Haltungen zeigen das Dilemma des israelischen Friedenslagers.

Grossmanns Rede hat ein breites Echo gefunden, sie ist sogar auf Deutsch in der Zeit erschienen. Es war die brillante Rede eines Schriftstellers, der mit Worten umzugehen weiß. Dabei prägte er einen Satz, der sofort den öffentlichen Diskurs prägte. „Unsere Führung, die politische wie die militärische, ist hohl“, erklärte er. Und dies ist seit dem Krieg tatsächlich das allgemein verbreitete Gefühl: Unsere Führung ist ohne jeden Plan und ohne Werte. Sie hat nur ein Ziel, nämlich ihr Überleben.

Ich konnte mich zu 90 Prozent mit dieser Rede identifizieren. Der tief greifende Unterschied zwischen uns betrifft die übrigen 10 Prozent seiner Rede – und noch mehr das, wovon er nicht sprach. Denn nach dem Frontalangriff auf die „hohle“ Führung hätte man erwarten können, dass Grossman seine eigene Vision und seinen Plan für die Lösung des Problems vorgelegt hätte. Aber so klar und deutlich seine Kritik war, so vage und banal fielen seine Vorschläge aus.

Was schlug er vor? Mit den „Moderaten“ unter den Palästinensern zu reden, „über die Köpfe“ ihrer gewählten Regierung hinweg, um noch einmal einen Friedenprozess zu beginnen. Das ist nicht sehr originell: Schon Ariel Scharon hat das gesagt (und nicht getan), und auch von Ehud Olmert und George W. Bush ist das schon gesagt (und nicht getan) worden. Ohnehin ist die Unterscheidung zwischen „Moderaten“ und „Fanatikern“ auf der arabischen Seite oberflächlich und irreführend.

Grossman lenkt die Debatte auf die Frage „Mit wem reden?“ und „Mit wem nicht?“. Wichtiger wäre es jedoch, klar und deutlich festzustellen, worüber geredet werden muss: über ein Ende der Besatzung, über die Errichtung des Staates Palästina mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt, über den Rückzug zu den Grenzen von 1967 und über die Lösung des Flüchtlingsproblems. Es ist klar, dass man der gewählten palästinensischen Führung – egal, wie sie zusammengesetzt ist – solche Vorschläge machen muss. Die Idee, dass wir nur mit einem Teil des palästinensischen Volkes verhandeln und den andern Teil boykottieren, ist falsch. Sie ist auch von einer anmaßenden Arroganz, die das Kennzeichen einer Besatzungsmacht ist.

Grossman hat viel Mitgefühl mit den Armen und Unterdrückten in der israelischen Gesellschaft und vermag dies in bewegenden Worten auszudrücken. Offensichtlich versucht er, ein ähnliches Mitgefühl für das Leiden der Palästinenser zu entwickeln. Aber hier versagte er. So sagte er, dass dies ein Volk sei, das „nicht weniger gequält“ sei als wir. Nicht weniger als wir? Gaza wie Tel Aviv? Rafah wie Kfar Sava? Er bemühte sich, eine Symmetrie zwischen den Besetzern und den Besetzten herzustellen, die so typisch für einen Teil des Friedenslagers geworden ist.

Über die Palästinenser, die in einer erwiesenermaßen demokratischen Wahl Hamas wählten, sagt Grossman, dass sie „Geiseln eines fanatischen Islam“ seien. Das ist – milde ausgedrückt – eine gönnerhafte, herablassende Haltung. Er fragt: „Warum setzen wir nicht all unsere Flexibilität, all unsere israelische Kreativität ein, um unsern Feind aus der Falle zu ziehen, in die er sich selbst begeben hat?“ Das heißt: Wir sind die denkende, kreative Partei, und wir müssen die armen Araber aus ihrem blinden Fanatismus befreien. Ist Fanatismus etwa ein genetischer Zug der Palästinenser? Oder ist es nicht vielmehr der normale Wunsch, sich aus einer brutalen Besatzung zu befreien – einer Besatzung, aus deren Würgegriff sie sich nicht befreien konnten, als sie eine „moderate“ Regierung wählten?

Um Grossmanns Worte zu verstehen, muss man den politischen Hintergrund kennen. Denn es gibt nicht nur ein israelisches Friedenslager, sondern zwei. Das Friedenslager, zu dem sich Grossman zählt, bezeichnet sich selbst als „zionistisches Friedenslager“. Es geht davon aus, dass es falsch sei, vom „nationalen Konsens“ abzuweichen. Deshalb müsse man seine Botschaft so zurechtschneiden, dass die Mehrheit sie im Großen und Ganzen jederzeit annehmen kann. Die „Frieden jetzt“-Bewegung gehört zu diesem Lager, das eng mit der Meretz-Partei und dem linken Flügel der Arbeitspartei verbunden ist.

Das andere Lager, das gewöhnlich als das „radikale Friedenslager“ bezeichnet wird, verfolgt eine entgegengesetzte Strategie: Es verkündet seine Botschaft auch dann laut und deutlich, wenn sie unbeliebt und weit entfernt vom Konsens liegt. Es geht von der Hypothese aus, dass der Konsens folgt, wenn sich die Botschaft in der Realität als richtig erwiesen hat. Dieses Lager, zu dem Gusch Schalom und Dutzende anderer Organisationen gehören, engagiert sich täglich in tatkräftiger Weise: vom Kampf gegen die Mauer und all die anderen schlimmen Aspekte der Besatzung bis hin zum Boykott der Siedlungen und die Unterstützung der Soldaten, die sich weigern, in den besetzten Gebieten Dienst zu tun.

Dieses Lager unterscheidet sich vom anderen auch dadurch, dass es enge Kontakte zu den Palästinensern pflegt – mit der Führung wie mit den einfachen Dorfbewohnern, die gegen die Mauer kämpfen, die ihnen das Land raubt. Vor nicht langer Zeit begann Gusch Schalom einen Dialog mit Führern der Hamas. Diese Kontakte ermöglichen es uns, die palästinensische Gesellschaft in all ihrer Vielfalt besser zu verstehen.

Da mit keiner Partei verbunden, ist diesem Lager völlig bewusst, dass es nie eine Massenbewegung sein wird. Doch wie kann es dann noch Einfluss üben? Wie kann es sein, dass im Laufe der Jahre viele ihrer Standpunkte von der Allgemeinheit angenommen werden? Wir nennen das den „Zahnradeffekt“. Ein kleines Zahnrad setzt ein größeres in Bewegung, das wieder ein größeres bewegt. Was wir heute sagen, wird morgen von „Frieden jetzt“ übernommen und am Tag danach von einem großen Teil der Öffentlichkeit.

Dies ist in der Vergangenheit schon mehrfach passiert, etwa während des jüngsten Libanonkriegs. Schon am ersten Tag rief Gusch Schalom zu einer Demo gegen den Krieg auf, als ihn die überwiegende Mehrheit noch offen und rückhaltlos unterstützte, darunter auch Amos Oz und David Grossman. Aber als die wirklichen Motive und die tödlichen Folgen bekannt wurden, veränderte sich der „nationale Konsens“. Es mag sein, dass sich das „radikale Friedenslager“ und das „zionistische Friedenslager“ im Kampf um die öffentliche Meinung ergänzen. Grossmanns Rede sollte in diesem Geist beurteilt werden. URI AVNERY

Übersetzung: Ellen Rohlfs