„Wäre ein revolutionärer Akt für NRW“

Der Pädagoge Gerd Weidemann fordert eine stärkere Integration behinderter Schüler im Gemeinschaftsunterricht

taz: Herr Weidemann, die Landesregierung hinterfragt den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Schülern. Aber die Förderschulen sollen optimal gefördert werden. Finden Sie das sachgerecht?

Gerd Weidemann: Das ist eine einseitige Sicht der Dinge. Wissenschaftliche Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass die Förderung im Gemeinschaftsunterricht den Vergleich mit Förderschulen nicht zu scheuen braucht. PISA legt nahe, dass Kinder und Jugendliche in integrierenden Systemen bessere Lernfortschritte machen. Es gibt jedoch ein Problem, das die Qualität des Unterrichts gefährdet: Die jährlich wiederkehrende Kürzung der Ressourcen in NRW.

International betrachtet besteht hierzulande ein Nachholbedarf in Integration. Sind die Kompetenzzentren von CDU/FDP hilfreich?

Dazu bedarf es einer klaren Zielorientierung auf die Integration der Kinder mit Handicaps. Doch diese Zielorientierung fehlt. Genauso ein politisches Bekenntnis zur Integration.

Wie müsste ein Kompetenzzentrum aussehen?

Es verzichtet auf Aussonderung. Es arbeitet mit den Kindern in wohnortnahen Regelschulen und setzt auf frühe und präventive Förderung in allgemeinen Schulen, in vorschulischen Einrichtungen und in Familien. Es ist vernetzt mit Jugendhilfe, Erziehungsberatung, Familienzentren, medizinischen Diensten und therapeutischen Angeboten. Es stellt Lehrkräfte, Diagnostik, Lernmedien, Beratung und Fortbildung für eine sonderpädagogische Förderung bereit, ohne die Kinder und Jugendlichen als gehandicapt zu etikettieren.

Was müsste in den Grundschulen getan werden?

In jeder Grundschule, auch in vorschulischen Einrichtungen, ist Prävention sinnvoll. Dazu müssten Sonderpädagogen ständig präsent sein. Auf der Grundlage einer sonderpädagogischen Diagnostik können dann Förderpläne aufgestellt und umgesetzt werden, die eine Integration in der Lerngruppe sichern. Eine solche Prävention wäre für NRW als revolutionärer Akt zu bezeichnen. Aber die Umsetzung kostet Geld. Ohne zusätzliche Mittel wird ein Etikettenschwindel betrieben.

Was raten Sie den Regierungsfraktionen in NRW?

Ein Mehr an Integration der behinderten Kinder und Jugendlichen umzusetzen und mit den Eltern und Lehrkräften einen Dialog über die Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Förderung zu führen.

INTERVIEW:
BRIGITTE SCHUMANN