„Ich gebe Nachhilfe auf der Straße“

Gió di Sera

„Als Euroitaliener hatte ich eine privilegierte Position gegenüber den Türken. Trotzdem galt ich als Ausländer. Da kam schon ein Solidaritätsgefühl in mir auf“

Für seine Umtriebigkeit ist der Künstler und Radio-DJ Gió di Sera weit über Kreuzberg hinaus bekannt. 1964 in Neapel geboren, gehört er seit den 80er-Jahren zur Berliner Kunst- und Musikszene. Als offizieller Berlin-Botschafter für Kreuzberg hat er 1998 mit „Berlinapoli“ ein Festival zwischen beiden Städten organisiert, als Don Rispetto moderiert er „Kanakwood“ auf Radio Multikulti. 1993 wurde di Sera für sein soziales Engagement mit dem Mete-Eksi-Preis ausgezeichnet. Auch sein neues Projekt im Frühjahr versteht sich als kommunikative Plattform: An der „StreetUniverCity“ können Jugendliche soziale Kompetenz und kreatives Empowerment lernen

INTERVIEW HARALD FRICKE

taz: Herr di Sera, wo ist Ihre kulturelle Heimat?

Gió di Sera: Nicht hier, nicht dort. Ich verstehe mich in der Tradition von Leonardo da Vinci.

Ist das nicht ein bisschen hoch gegriffen?

Da Vinci war nicht nur ein Künstler mit berühmten Meisterwerken. Er hatte auch eine universelle Neugier, die sich auf alle Wissensgebiete erstreckte. Dazu suchte er den Austausch mit anderen Bereichen – alles, was auch mich immer interessiert hat. Und wenn ich mir ansehe, was heute in Kreuzberg passiert, dann zählen ähnliche Zusammenhänge: verschiedene Kulturen, die unentwegte Kommunikation auf der Straße. Überhaupt erinnert mich der ganze Mikrokosmos von Kreuzberg an die weltoffenen Städte der Renaissance.

Als Spache der Straße sprechen Sie „Kreuzberlingo“. Was ist das?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: „this is kein no sense … so eschucha listena, der selbe shit siempre from da street“ – „dies ist kein Unsinn …entschuldige bitte, lieber Hörer, das ist wieder mal der heiße Scheiß von der Straße“. Das sind Sätze, wie ich sie als mein Alter Ego Don Rispetto bei meiner „Kanakwood“-Sendung auf Radio Multikulti benutze.

Und warum haben Sie diesen Sprachenmix erfunden?

Das war keine Erfindung, sondern Notwendigkeit. Als ich 1985 von Neapel nach Berlin kam, empfand ich Kreuzberg zwar schon als „melting pot“ mit einer Vielzahl von Sprachen. Aber umgekehrt galt auch: Deutsche Sprache – schwere Sprache. Also habe ich nach etwas gesucht, was die Kommunikation vereinfachen sollte. Das war dann Berlingo, ein Mix aus Deutsch, Englisch, Italienisch, aber auch Spanisch, Türkisch und vor allem Streetcodes.

Wo wird diese Sprache gesprochen?

Ach, hier in Kreuzberg kommt man damit ganz gut über die Runden. Außerdem ist es auch mein persönlicher Style, eine Art Spoken-Word-Poetry.

Wie sind Sie als Jugendlicher von Italien nach Berlin gekommen?

Ich bin aus Neapel geflüchtet. Die Situation dort war völlig festgefahren: Nach den großen Erdbeben von 1980 herrschte eine große Hoffnungslosigkeit, dazu die Angst vor der Camorra, außerdem waren in meinem Bekanntenkreis viele Drogen im Spiel. Berlin versprach dagegen einiges an Alternativen, auch weil ich hier mein künstlerisches Talent auf die Probe stellen konnte. Ich setzte hier meine Malerei fort. Weil ich mich ja noch nicht so gut auf Deutsch verständigen konnte, habe ich erst mal versucht, alles in Gemälden auszudrücken.

Die bald ausgestellt wurden?

Ja, 1987 in der Galerie endart fand mein meine Ausstellung „Asyl-Ikonen“ statt. Wobei der Titel durchaus spielerisch gemeint war, nach dem Motto: Gebt meiner Kunst ein Asyl!

Und?

Der Erfolg gab mir Recht. Ich habe gut verkauft, ich hatte plötzlich Sammler. Es war ohnehin die Zeit, in der Kreuzberg nach den Krawallen am 1. Mai 1987 überall berühmt und berüchtigt war. Und wir lebten mittendrin, als Bohemiens.

Das war eine Boheme, die sich nicht für ihr Umfeld, sprich: für die türkische Bevölkerung, interessierte.

Nein, man hat sich parallel ausgelebt, radikal und total subjektivistisch. Erst nach dem Mauerfall kam bei mir der Wendepunkt: Der Rassismus und die Intoleranz, bis hin zu konkreten Toten, die bei fremdenfeindlichen Anschlägen in Solingen und Mölln verbrannten.

Wieso waren Sie davon betroffen?

Ich war zunächst gar nicht betroffen. Ich war ein aufstrebender Künstler mit Geld und Zigarre. Vor allem hatte ich es als Junge aus Neapel von der Straße bis in den Kunstbetrieb geschafft. Alles so weit cool. Bis ich eines Tages in der U-Bahn in einen Strudel von Demonstranten geraten bin, die eine Demo wegen des Mordes an Mete Eksi veranstaltet hatten. Er starb im Streit zwischen türkischen und rechten Jugendlichen. Danach habe ich mich entschieden, back to meine roots zu blicken. Als Euroitaliener hatte ich eine privilegierte Position gegenüber den Türken. Trotzdem galt ich als Ausländer. Da kam schon ein Solidaritätsgefühl in mir auf.

Gab es Gemeinsamkeiten mit der türkischen Jugendszene?

Nein. Deshalb wollte ich irgendwann den türkischen Freund einer befreundeten Spanierin kennen lernen. Das war Neko Celic, der kam von Graffiti her, da gab es gleich eine Verbindung über die Kunst. Ohnehin entstanden die meisten interessanten Sachen der Street-Kultur – Breakdance, Hiphop und Sprayer – unter jungen Postmigranten.

Ein Projekt mit Celic war „To Stay Here Is My Right“. Wie kam es dazu?

Wir haben uns 1992 als antirassistische Initiative zusammengeschlossen, um Präsenz zu zeigen. Es war ein positives Beispiel für die Kooperation von Künstlern und Musikern, mit denen wir auch gemeinsam im Ballhaus Naunynstraße ein Benefizkonzert für Mete Eksi organisiert hatten. Das Geld, was dabei zusammenkam, haben wir dem Jugendzentrum Naunynritze für einen Graffitiwettbewerb gespendet.

Das war auch Ihr Einstieg in die Kreuzberger Kiezarbeit.

Für mich war das alles Neuland, wie die Impulse von der Straße in Kunstprojekte umgesetzt werden konnten. Statt Gewalt haben die Leute ihre Aggressionen in eigene Kultur transformiert. Ich hatte ja Glück, weil ich durch Galeristen wie Michael Wewerka oder die Raab-Galerie in das Kunstsystem hineingekommen bin. Aber in meiner Vorstellung gehört beides zusammen: Hochkultur und Straße. Wenn man so will, ist das auch eine Erweiterung der „sozialen Plastik“, wie sie Joseph Beuys verstanden hat.

An die Free University von Beuys, die 1972 auf der documenta V stattfand, erinnert auch Ihre Gründung einer „StreetUniverCity“. Was hat es damit auf sich?

Dafür muss ich weiter ausholen. Schon in der Antike wurde darüber philosophiert, welchen Ort die Kunst und generell die Wissenschaften in der Gesellschaft haben. Es gab allerdings immer diese Zweiteilung: unten die Straße und das Ghetto, oben die Eliten und die Politik. Diese Kluft hat etwas mit Sprache zu tun: An der Sprache scheiden sich oben und unten, was angesichts der Diskussion um Bildungseliten und migrantische Unterschichten noch drastischer geworden ist. An dieser Trennung muss sich endlich etwas ändern, wir haben immerhin das Jahr 2007.

Auf der Straße bilden Jugendliche längst eigene Codes und Gruppen.

Genau an dieser Schnittstelle wollen wir mit StreetUniverCity ansetzen. Rap oder Hiphop geben den Leuten zwar eine Identität. Aber die vermittelt sich nicht mehr den anderen Teilen der Gesellschaft. So entsteht auf beiden Seiten ein Ausschluss, das Ergebnis sind dann Konflikte zwischen Polizisten und jugendlichen Migranten wie vor kurzem in der Wrangelstraße.

Weil sich dort beide Seiten missverstanden fühlten?

Der Staat hat das Gewaltmonopol, das von der Polizei vertreten wird. Aber umgekehrt darf man kleine Delikte von Jugendlichen nicht als Schwerverbrechen werten – und ihnen dann noch drohen, dass sie eigentlich zurück in ihre Heimat gehen sollen. Deutschland ist ihre Heimat! Deshalb wollen wir mit StreetUniverCity genau da Nachhilfe geben: Die Kids sollen in Pflichtkursen soziale Verantwortung und soziale Kompetenz lernen; für die Polizei wäre es im Gegenzug gut, wenn sie in solchen Kursen etwas über den kulturellen Hintergrund der Jugendlichen erfahren würde.

Wie soll der Unterricht aussehen?

Wir feilen noch am Lehrplan. Wichtig ist, dass die beiden anderen Organisatoren neben mir auch Vorbildfunktion haben: Martin Kesting ist langjähriger Leiter der Naunynritze; Erhan Emre gehörte selbst früher zu den Jugendlichen, die bei uns Graffiti gesprüht haben. Heute ist er ein erfolgreicher Schauspieler, der in Detlev Bucks Film „Knallhart“ oder im „Tatort“ mitgespielt und den Grimme-Preis bekommen hat. Nebenher baut er eine Produktionsfirma auf.

Gibt es noch andere Partner der StreetUniverCity?

Das fängt beim Bezirksamt Kreuzberg an, das uns Räume in der Naunynritze zur Verfügung stellt. Ein weiterer Partner wird der Kunstraum Kreuzberg und das Street-Art-Projekt „Back Jumps“ sein. Dann gibt es die Bundeszentrale für Politische Bildung, die uns finanziell unterstützt, und wir haben Gelder vom Hauptstadtkulturfonds bekommen.

Was soll überhaupt an der StreetUniverCity unterrichtet werden?

Kommunikation, Empowerment, dass man seine eigenen Interessen vertreten lernt. Es kann und muss am Ende nicht jeder Künstler werden, das sagen wir von Anfang an. Aber wer nicht Musiker wird, kann sich immer noch als Tontechniker oder Labelbetreiber versuchen; und wer nicht als Schauspieler beim Film landet, der hat vielleicht das Talent zum Kameramann.

Also Starthilfe für eine Karriere?

Damit wir uns nicht falsch verstehen – es geht nicht um berufsfördernde Maßnahmen oder Sozialarbeit. Wir wollen die Leute motivieren, selbst initiativ zu werden. Dafür setzen wir auf Vermittlung von kommunikativen Fähigkeiten, wie sie die Jugendlichen auf der Straße erlernt haben – und wie sie durch die Street-Uni verfeinert oder mit anderen Bereichen vernetzt werden können.

Wen kann man mit solchen Maßnahmen erreichen?

Nicht alle, das ist klar. Es gibt viele, nicht bloß migrantische Jugendliche, die sich bereits von der Gesellschaft verabschiedet haben oder für die der Dealer einfach ein Vorbild ist, weil er dick Kohle macht. Aber für die Jugendlichen, die unsicher sind, wie sie sich gegenüber solchen Bad Guys verhalten sollen, ist die StreetUniverCity der richtige Ort, der ihnen zu mehr Identität und Selbstvertrauen verhilft. Wenn sich so ein positives Feedback herstellen lässt, dann hat das auch nachhaltige Wirkung im Kiez. Das ist für mich präventive Arbeit an sozialen Brennpunkten.

Das heißt, die Jugendlichen müssen begreifen, dass sie ihr Schicksal selbst in der Hand haben?

Was ihnen von der Gesellschaft ja nicht einfach gemacht wird. Wir haben jetzt eine Situation, in der allerlei Kulturgelder in Projekte gesteckt werden, die am Ende, wie es so oft heißt, „die Kreativität von Jugendlichen mit migrantischem Hintergrund“ fördern …

als Ausdruck einer multikulturellen Gesellschaft …

… nur was heißt das im Klartext? Du wirst wieder auf deine migrantische Herkunft festgelegt. Dabei sollte das Ziel sein, nicht migrantische oder türkische Künstler, sondern generell Berliner Künstler zu unterstützen. Die sind hier geboren, die sind hier aufgewachsen, mit der Kultur der Straße. Da fängt unsere Aufgabe an: Weil wir eben nicht in einem Notstands-, sondern Wohlstandsghetto leben und arbeiten, sehe ich konkrete Möglichkeiten, die Situation zu verbessern.