die taz vor zwanzig jahren zur Debatte um den Volkszählungsboykott
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„Unsere“ Demokratie ist, will man den Politikern glauben, ein Doppelwesen: einerseits die stabilste, die es je auf deutschem Boden gab, andererseits seit Gründung dem Sterben nahe. Ihr Ende steht vor allem immer dann bevor, wenn Gesetze auf Widerstand in der Bevölkerung stoßen. Seit die grünen Parlamentarier sich bei der Bundestagseröffnung mit dem Boykott-Aufruf zur Volkszählung geschmückt haben, geht es wieder einmal um alles oder nichts. Von der Frankfurter Rundschau bis zum CDU-Abgeordneten Waffenschmidt suggeriert die Rhetorik Gefahr für das Prinzip der Mehrheitsentscheidung überhaupt.

Aber auch wenn man an der demokratischen Haltung mancher Boykotteure zweifeln kann – die forcierte Pseudopanik der Demokratieverwalter ist weitaus bedenklicher. Denn nicht das Prinzip der Mehrheitsentscheidung wird verteidigt, sondern der spezifisch historisch geprägte Bonner Parlamentarismus, demzufolge die Gefahr von „Weimarer Verhältnissen“ dann gebannt ist, wenn das Volk die Entscheidungen des Parlaments widerspruchslos hinnimmt. Es ist ein verkürzter, undemokratischer Parlamentarismus, der darauf besteht, daß außerhalb des Bundestags möglichst kein politischer Streit und schon gar kein wirksamer Ungehorsam stattzufinden habe.

Der Volkszählungskonflikt ist zu einem massenhaften Test über das Verhältnis Individuum/Staat geworden. Mißtrauen und Ungehorsam gegenüber dem Staat sind ein historisches Erbe und zwar ein kostbares. Dem Parlament stände es wohl an, dieses Mißtrauen zu ehren und die eigene Gesetzgebung noch einmal zu überprüfen, auch wenn sie verfassungskonform ist – allein aus dem einfachen Grund, daß eine bedeutende engagierte Minderheit sich nicht zählen lassen will.

Klaus Hartung in der taz vom 26. 1. 1987