Gravierende Vorwürfe gegen Staatschef al-Sisi

ÄGYPTEN Human Rights Watch prangert „Massenhinrichtungen“ von Hunderten Anhängern der Muslimbrüder vor einem Jahr an

„Die Sicherheitskräfte haben von der ersten Minute an das Feuer eröffnet“

KENNETH ROTH, HRW

VON BEATE SEEL

BERLIN taz | „Sie haben sofort angefangen, Tränengas und tödliche Schüsse abzufeuern. Es war so grauenhaft; ich kann es nicht in Worte fassen. Es war nicht wie die Male davor, als ein oder zwei Schüsse gefallen sind. Es hagelte Kugeln. Ich roch das Gas, und sofort wurden Menschen um mich herum angeschossen und gingen zu Boden. Ich habe keine Ahnung, wie viele getroffen wurden. Wir haben keine Warnungen gehört, nichts. Es war die Hölle.“

Der ägyptische Geschäftsmann, der diese Szene gegenüber der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) beschreibt, hatte vor einem Jahr an dem Protestlager gegen die Absetzung des gewählten Präsidenten Mohammed Mursi am 3. Juli teilgenommen, der den Muslimbrüdern angehört. Am 14. August 2013 wurde das Camp auf dem Rabaa-al-Adawija-Platz in Kairo gewaltsam geräumt.

Aus diesem Anlass hat HRW am Dienstag eine 195-seitige Untersuchung mit dem Titel „Alles plangemäß. Das Rabaa-Massaker und die Massentötungen von Protestierenden in Ägypten“ veröffentlicht. Nach Recherchen und Interviews mit über 200 Augenzeugen kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass die ägyptischen Sicherheitskräfte mehrere tausend Tote einkalkulierten und zweifelsfrei 817 Menschen töteten, wahrscheinlich sogar rund 1.000.

„Ich habe einen Mann gesehen, der in der Nähe des Brunnens in der Mitte der Nasr-Straße bei Yousif Abbas stand“, beschreibt ein Demonstrant, der an der Al-Azhar-Universität studiert, die Ereignisse. „Eine Kugel traf ihn in die Schulter, und er fiel hin. Er versuchte aufzustehen, dann schossen sie ihm ins Bein. Er fing an zu kriechen, während das Blut herunterlief. Er war die einzige Person da vorne und wurde immer wieder in die Arme und in die Brust geschossen. Er wurde mindestens acht Mal getroffen. Nach einem der Schüsse zitterte er und bewegte sich dann nicht mehr.“

Kenneth Roth, Geschäftsführer von HRW, beschreibt das Vorgehen so: „Die Sicherheitskräfte haben erwiesenermaßen von der ersten Minute an das Feuer auf Menschenmengen eröffnet. Das entlarvt alle Behauptungen, die Regierung habe versucht, die Todeszahlen gering zu halten. Die überaus brutale Räumung hat zu einer schockierenden Zahl von Toten geführt, die vorhersehbar war und von der Regierung tatsächlich eingeplant wurde.“ Bis heute sind weder Polizisten oder Armeeoffiziere noch Beamte oder Politiker, die die gewaltsame Räumung des Camps und die Tötungen angeordnet haben, zur Rechenschaft gezogen worden. Daher fordern die Menschenrechtler ein Strafverfahren gegen den damaligen Armeechef und heutigen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi, den damaligen Innenminister Mohammed Ibrahim und den Kommandanten des Rabaa-Einsatzes, Medhat Menschawi, wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen, die laut HRW möglicherweise ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen.

Ägyptische Amtsträger rechtfertigten die Rabaa-Räumung damit, dass das Camp die Anwohner gestört habe und zu Gewalt und Terrorismus aufgerufen worden sei. Bei der Räumung sei die Gewalt notwendig gewesen, weil die Demonstranten selbst gewalttätig gewesen seien und geschossen hätten. Tatsächlich warfen bei Beginn des Angriffs Hunderte Demonstranten Steine und Molotow-Cocktails auf die Polizisten und schossen vereinzelt auf sie. Acht Polizisten wurden bei dem Einsatz getötet. Im Anschluss gab Innenminister Ibrahim bekannt, 15 Schusswaffen seien auf dem Platz sichergestellt worden. Zum Zeitpunkt der Räumung hielten sich schätzungsweise 85.000 Personen aug dem Rabaa-Platz auf.

Bei der Untersuchung wurden neben der Befragung von Augenzeugen auch Filme und Videos ausgewertet sowie offizielle Erklärungen der Regierung berücksichtigt. HRW weist darauf hin, dass angesichts der Einschränkungen demokratischer Freiheiten in Ägypten die Rechercheure bei ihrer Arbeit zahlreichen Behinderungen bis hin zu Drohungen ausgesetzt waren. So überrascht es nicht, dass Roth und die Nordafrika-Expertin Sarah Lea Whitson am Montag nicht nach Ägypten einreisen durften, um dort die Studie öffentlich zu präsentieren.