Doktor Faust glatt poliert und dröhnend

Kindesmord, Begierde und die Nutzlosigkeit allen Wissens. Goethes Dr. Faustus als französische Gretchen-Geschichte in der Regie von Michael Simon. Dafür wurde die Düsseldorfer Rheinoper wegen des Umbaus eben mobil. Charles Gounods große Faust-Oper findet jetzt im Zelt am Rheinufer statt

VON FRIEDER REININGHAUS

Der deutsche Professor ist auch nicht mehr das, was er einmal war. In der Regel ist ihm der Wille abhanden gekommen, das, was die Welt im Innersten zusammenhält, ergründen zu wollen. Längst verflossen sind die Zeiten, in denen der jungdeutsche Literat Ferdinand Gustav Kühne resümierte: „Der Faust sitzt dem Deutschen wie Blei auf den Schultern, hat sich ihm ins Herz genistet, in sein Blut eingesogen; wir sitzen und dichten und dämmern über das Schicksal, das wir in uns selbst tragen, wir käuen und käuen daran und können uns selbst nicht verdauen.“ Nein, derart beschwert sich der wissenschaftliche Nachwuchs heute so wenig wie das in die mittleren Positionen des Betriebs einrückende Mittelfeld.

Méphistophélès macht dem mit seinem Gelehrtenschicksal hadernden Dr. Faust in der 1859 uraufgeführten Oper von Charles Gounod das bekannte Angebot: die große Verjüngungskur. Sie impliziert mit der Option auf neues Glück die Fortsetzung der prestigeträchtigen Wissenschaftler-Karriere – gegen Verpfändung der Seele. Michael Simon, Regisseur und Ausstatter einer neuen Produktion der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf, vermeidet spitzgieblige Studierstube, Bücherwände und Laboratoriums-Gerätschaften. Er präsentiert den Gelehrten und seinen von Gott geschickten Herausforderer im Theaterzelt am Rheinufer wie unter freiem Himmel – vermummt zunächst. Eine halbhohe leere Wand, auf der sich Video-Animationen mit Paaren, Passanten und quirligen Choreografien von bunten oder weißen Händen einspielen lassen, geht nahtlos in eine lang gezogene Bank über. Diese glatte Plastik-Installation dient sämtlichen Faust-Szenen als Hintergrund. Sie ist so unwirtlich wie die Möblierungen im innerstädtischen Leben der Gegenwart.

Beim Vertragsabschluss zeigt der ranke, schlanke M. sein wahres Gesicht – wahrhaft mephistophelisch gebärdet sich Samu Luttinen, der über eine für die Teufels-Partie bestens geeignete bewegliche, markante und zu feiner Ironie befähigte Bass-Stimme verfügt. Mitunter übertreibt er das diabolische Grimassieren, das Lachen in jedem Fall. Er enthüllt auch Fausts Kopf, der bei Steven Harrison auf einem jung-dynamischen Körper sitzt. Zum Vorschein kommt, höchst realistisch, ein aus dem wirklichen Leben nur allzu geläufiger Typus des alerten Nachwuchswissenschaftlers. Dessen Ehrgeiz begnügt sich zunächst sichtlich mit dem Wunsch nach kommodem Wohlstand, einer gewissen medialen Wirkung als „Experte“ - nur jetzt eben soll auch noch einmal ein frisches junges Glück dazukommen, warum er sich deshalb aber derart mit „dem Bösen“ arrangiert, bleibt unerfindlich. Marguerite hat in Gestalt der mit luzidem, sauberem und kräftigem Sopran begabten Nataliya Kavalova so gar nichts von einer deutschen Gretel. Die Annäherung an sie scheint weniger eine Sache von lang angestautem erotischen Begehren, sondern aus Karriere- und Prestige-Gründen „angesagt“. Vielleicht ist dies das wahrhaft Teuflische in heutigen Wissenschaftler-Karrieren.

Die Sache geht bekanntlich, wie es Gott und dem göttlichen Goethe gefiel und nicht gut aus für das allzu hingebungsvoll liebende Gretchen. Die aber war – und das gehört zu den erstaunlichen Künsten der Übertragung – 1850 durch Michel Carrés „Faust et Marguerite“, ein „Drame fantastique“, zu einer jungen Französin avanciert. Der tief religiöse Gounod, ein erfahrener Kirchenmusiker und Freund der Liedertafeln, versah nur indirekt Fragmente von Goethes insgesamt nicht in den musikalischen Griff zu bekommenden „Faust“ mit seinen handlichen Melodien, wohlgesetzten Harmonien und packenden Ensemble-Konstellationen: Er promovierte Carrés Boulevard-Stück, das Goethes Tragödie zur Empörung unserer Urgroßväter brutal kupiert hatte, zur großen Oper. Er rückte Marguerite zunehmend in den Focus dessen, was als Gelehrten-Tragödie begann. Er bedachte, während die irdische Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt, die Erlösung der in Liebe und Leben gescheiterten jungen Frau mit einer zu fast überirdischer Schönheit aufsteigenden Musik. Nataliya Kovalova und Steven Harrison laufen schon beim großen Annäherungs- und Liebes-Duett am Ende de III. Akts zu großer Form auf. Das letzte Finale, die Kerker-Szene, bestreiten sie in vorzüglicher Verzweiflung und irreal schöner Hoffnung.

Dass der Teufel, diese wahrhaft göttliche Erfindung und Erscheinung, seit mehr als zweihundert Jahren durch die Paradiese des deutschen Stadttheaters gepeitscht wurde, hat er dessen Betreibern nie verziehen. Daher rächt er sich allenthalben und trübt die in Fausts Namen auf die Bühne gebrachten Produktionen nur allzu gern ein – in Düsseldorf bediente er sich dazu des Dirigenten Alexander Joel. Dieser Kapellmeister hat keine guten Ohren und keinen guten Geschmack. Das von ihm rudernd angeleitete Orchester spielt unpräzise und, obwohl stark ausgedünnt, nicht kammermusikalisch transparent - in keiner Weise den akustischen Bedingungen im Zelt angemessen. Joel fuchtelt zupackend wie für eine Millionärs-Gala in einer amerikanischen Riesenhalle - und lässt entsprechend dröhnen, dreinfahren, draufhauen. Auf der Bühne bleibt Marguerites Bruder Valentin als Kollateralschaden auf der Strecke - im Ganzen ziemlich viel von der Delikatesse der französisch verbürgerlichten Musik. So, wie frühere Generationen deutscher Operngänger Zuschnitt und Gehalt dieser Oper, der nie „Blei auf den Schultern“ lag, gründlich verkannten, so misshört die Düsseldorfer Produktion das, was Gounods „Faust“ liebenswürdig und erhaltenswert macht.

19:30 Uhr, RheinOper, DüsseldorfInfos: 0211-8925211