Ein Land ohne Schulen

In Brandenburg werden derzeit 80 weiterführende Schulen geschlossen. Das beschleunigt die Abwanderung der Bevölkerung. Da Proteste nichts nutzen, helfen sich jetzt einige Bürger selbst

VON BEATE SELDERS

Für den 16-jährigen David Frankowski ist die Sache klar. „Wenn unsere Schule geschlossen wird, dann müssen wir eben eine eigene aufmachen.“ Zwanzig Leute im Alter von 16 bis 65 sitzen zusammen im Gemeindezentrum des Brandenburgischen Viertels in Eberswalde und schmieden Pläne für eine freie Schule, weil die letzte Oberschule im Stadtteil im nächsten Jahr geschlossen wird.

8.500 Menschen leben in dem Plattenbauviertel. Vor 30 Jahren wurden die Wohnblöcke für die Arbeiter des Wurst - und Fleischkombinats hochgezogen. Die Nachfolge-GmbH produziert kaum noch, und die Hälfte der Einwohner ist schon gegangen. Es wird rückgebaut: Zwei Schulen haben die Bauarbeiter schon abgerissen, eine steht noch wie ein abgenagtes Gerippe ohne Fenster und Türen da. Wo die größte Kaufhalle war, wächst heute grünes Gras. Ein weiterer Laden hat gerade dichtgemacht, der letzte, so befürchten alle, wird mit der Oberschule schließen.

Sie haben im letzten Jahr gestreikt, demonstriert, 13.000 Unterschriften gesammelt, ein Bürgerbündnis gegründet und einen eigenen Kandidaten für die Bürgermeisterwahl aufgestellt. Alles, um die Schule zu erhalten. Es hat nichts genutzt. Das Einzige, was ihnen bleibt, ist die Selbsthilfe.

Einige sind noch skeptisch, andere haben schon Feuer gefangen. Denn mit der Idee, eine freie Schule zu gründen, kam die Begeisterung für pädagogische Konzepte, von denen sie bisher nichts wussten. Eine demokratische Schule soll es werden, denn demokratische Entscheidungen haben sie alle schmerzlich vermisst im vergangenen Jahr. „Es soll niemals mehr eine Schule geschlossen werden, ohne dass die Schüler gefragt werden“, sagt der Diakon Hartwin Schulz, und es klingt wie ein Schwur.

In Brandenburg werden derzeit über 80 weiterführende Schulen abgewickelt. Mit 65 neuen Schließungen rechnet das Bildungsministerium in den nächsten Jahren. Grundlage dafür ist das Schulgesetz. Im siebten Jahrgang müssen zwei Klassen mit jeweils mindestens 20 Schülern zustande kommen. Wird diese Zahl zwei Jahre hintereinander nicht erreicht, bedeutet das für die Schule das Aus.

Nur zehn Gesamtschulen mit gymnasialer Oberstufe bleiben nach Informationen des Bildungsministeriums am Ende des Schulsterbens vom einstigen Bildungskonzept übrig. Das Schulsystem wird auf zwei Typen reduziert: die Gymnasien und die neu eingeführte Oberschule, in der die bisherigen Gesamtschulen bis zur zehnten Klasse und die Realschulen zusammengefasst werden. Dieses Zwei-Säulen-System, so die Kritiker, zementiere eine frühe Auslese.

Die Eberswalder sind nicht die Einzigen, die kämpfen, aber die meisten Schulen schließen still und leise ihre Türen. Zu mächtig ist das demografische Argument der schrumpfenden Dörfer und Städte. Jede Schließung beschleunigt wiederum diese Abwanderung und verhindert Neuansiedlungen. So werden Bevölkerungsprognosen zur selbsterfüllenden Prophezeiung.

„Mit dieser Politik schreibt man die Richtung der Entwicklung fest,“ meint Jörn Atlas, Schulleiter in Glöwen, einem kleinen Ort im Landkreis Prignitz, und warnt vor kultureller Verödung. „Gerade in den strukturschwachen Gebieten haben Schulen eine wichtige Funktion.“ Die Schule in Glöwen ist durch Musikprojekte mit den Berliner Symphonikern über den kleinen Ort hinaus bekannt geworden. Ein Leuchtturm sei sie, meint Bildungsminister Holger Rupprecht (SPD). Es gibt Projektunterricht, die Schüler lernen in Betrieben die Praxis kennen, sie gestalten auch die Gedenkstätte eines nahen KZ-Außenlagers mit. Von der Landesregierung gab es einen Innovationspreis – aber keine Ausnahmegenehmigung zur Bildung kleinerer Klassen. Das heißt: Auch die Schule in Glöwen wird bald schließen.

Bis zum Jahr 2020 werden die Schülerzahlen in Brandenburg weitersinken. Davon sind auch Demografen überzeugt, die nicht zur apokalyptischen Sorte gehören. Der kürzlich erschienene Forschungsbericht der Robert-Bosch-Stiftung „Demografie als Chance“ nimmt einen Rückgang um bundesweit zwei Millionen an. In Brandenburg soll der Schwund mit 35 Prozent am höchsten sein. Das setzt beträchtliche Finanzmittel frei, die, so empfiehlt die Studie, unbedingt wieder in den Bildungsbereich investiert werden sollten.

Stattdessen wird gekürzt und eingespart, nicht nur in Brandenburg. Die Landesregierung verweist auf ein gutes Abschneiden der Lehrerausstattung im Bundesvergleich, während der Landesschülerrat „immensen Unterrichtsausfall“ und „grobe Lehrplanverletzungen“ beklagt. GEW-Landeschef Günther Fuchs wirft der Regierungskoalition eine beispiellose Zerstörung der Infrastruktur und miserable personelle und sachliche Ausstattung der verbleibenden Schulen vor. Auch die ländlichen Grundschulen klagen über zu geringe Personalausstattung.

Schlechte Voraussetzungen, um den steigenden Anforderungen durch die hohe Arbeitslosigkeit im Land gewachsen zu sein. Psychische Probleme und Sprachentwicklungsstörungen bei Grundschülern nahmen in den letzten Jahren auffällig zu. Eine Entwicklung, die mit der schlechten sozialen Lage der Eltern zusammenhängt, so das Ergebnis einer Untersuchung in Kindertagesstätten.

Im Brandenburgischen Viertel von Eberswalde gibt es viele Schüler aus solchen Familien. Die Schule, die jetzt geschlossen wird, war bestens darauf eingestellt. Das soll auch die freie Schule sein. Nur kosten darf sie die Eltern nichts. Erste Ideen für die Finanzierung ohne Schulgeld gibt es bereits. Gelänge das Projekt, wäre das ein großer Schritt dahin, freie Schulen aus der elitären Nische zu holen. Aber auch ein Schritt in Richtung Privatisierung von elementarer Bildung, die der Staat nicht mehr ausreichend gewährleistet.