Der Riss in der Wirklichkeit

LITERATUR Einbruch des Fantastischen oder Hirngespinst des Erzählers: Christopher Eckers Roman „Die letzte Kränkung“

Offensichtlich hat Ecker seine Schlüsse gezogen und sich für seinen neuen Roman, „Die letzte Kränkung“, gegen die literarische Langstrecke entschieden – und dennoch einen großen Wurf gelandet

Da setzt sich einer hin, schreibt einen 1000-seitigen Backstein von Buch, und kaum jemand nimmt sich die Zeit, es zu lesen. Das Phänomen ist keinesfalls neu. Dennoch hätte Christopher Eckers Wälzer „Fahlmann“, für Literaturkritiker Denis Scheck „eines der großen Leseabenteuer der deutschen Gegenwartsliteratur“, vor zwei Jahren, als das Buch erschien, mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt.

Offensichtlich hat Eckers seine Schlüsse gezogen und sich für seinen neuen Roman, „Die letzte Kränkung“, gegen die literarische Langstrecke entschieden – und dennoch einen großen Wurf gelandet. Das nun etwas mehr als 100 Seiten schmale Buch kreist um einen namenlosen Erzähler „in einem dieser kleinen, nur selten auf Karten verzeichneten bretonischen Fischerdörfer“ zur Zeit der deutschen Besatzung. Augenscheinlich rührt die Namenlosigkeit von einer Amnesie her, denn während die Erzählerfigur sich für einen Ausländer hält, lässt der Umgang der Dorfbewohner mit ihm vermuten, er sei einer von ihnen. Ob ihn nun der Hotelier Rudolphe penetrant duzt, der Pfarrer ihm regelmäßig Geld zusteckt oder die schöne Witwe Solange nach Momenten des Erkennens in seinem Blick sucht, als sei er ihr verschollener Ehemann Yann.

Imaginierte Charaktere

Doch noch etwas scheint verschoben im Wahrnehmungsapparat der Erzählerfigur, denn zwei der Charaktere sind offensichtliche imaginiert. Da wäre zum einen der „Holländer“, der konspirativ durchs Dorf schleicht und aggressiv den Kontakt zum Erzähler sucht. Die zweite auffällige Figur ist dessen Gegenspieler, eine geheimnisvolle Person mit einer Hand aus Stahl, die direkt aus der bretonischen Legende des heiligen Mélar entstiegen zu sein scheint. Mit dem Erzähler bilden sie das Personal eines vermeintlichen Agententhrillers um die Aufdeckung eines vom Erzähler gehütetes Geheimnisses: Im Boden seines Hotelzimmers befindet sich ein sonderbar lebendiger Schlitz mit speckigen Lippen, „keineswegs ein breiter Spalt zwischen den Dielen, sondern eine diagonal zur Ausrichtung der polierten Holzbretter verlaufende, durchaus organisch anmutende Öffnung, die von zwei trockenen, harten und sich wie altes Leder anfühlenden Wülsten verschlossen wurde“. Obwohl er tief hinab zu gehen scheint, gibt die Decke des darunter liegenden Zimmers keine Hinweise auf die Existenz des Schlitzes. Und als der Erzähler die Hotelkatze zu Testzwecken zwischen die Wülste stopft, bleibt diese danach vom Erdboden verschluckt.

Hat Ecker hier den Riss in der Wirklichkeit, anhand dessen man seit Tzvetan Todorov fantastische von realistischer Literatur unterscheidet, in ein literarisches Motiv überführt? Gekonnt hält er in der Schwebe, ob dieser Riss als Einbruch des Fantastischen in die Systemrealität der Romanwelt zu deuten ist, oder als bloßes Hirngespinst des völlig unzuverlässigen Erzählers, der in regelmäßigen Abständen sein Bewusstsein verliert. Doch ob der Riss nun tatsächlich in Rudolphes bretonischem Hotel oder in den pathologischen Landschaften unseres derangierten Erzählers angesiedelt ist, die Figuren gieren nach der Aufklärung dieses phänomenologischen Kuriosums, was „Die letzte Kränkung“ stringent auf einen Showdown zutreibt.

Das ausgetüftelte Verwirrspiel in der Uneindeutigkeit zwischen realistischem und fantastischem Erzählen, das nie ins Diffuse abdriftet, sondern einer strengen formalen Architektur folgt, erinnert zuweilen an die Prosa eines Leo Perutz. Und auch Eckers exakter, der Akkuratesse verpflichteter Stil muss den Vergleich mit solchen Namen nicht scheuen. Überhaupt ist dieser brillant erzählte, exquisite Roman ganz wie der Schlitz im Hotelzimmer ein Raumwunder, in dem deutlich mehr steckt, als es von außen den Eindruck macht.

MORITZ SCHEPER

■ Christopher Ecker: „Die letzte Kränkung“. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014, 128 Seiten, 14,95 Euro