Ein steiniger Weg ins Kloster

TAZ-SERIE STADTFLUCHT Es ist wieder Musiksommer in Chorin: Klassische Konzerte vor toller Kulisse. Die Reise kann schweißtreibend sein. Dafür ist es dort umso entspannender – selbst bei miesem Wetter

■ Wer kennt das nicht: die Stadt viel zu laut, zu groß, zu voll. Selbst die Sommerferien sorgen längst nicht mehr für Entschleunigung, die urlaubenden BerlinerInnen werden durch Schwärme von Touristen ersetzt. Wie gut, dass wir in Berlin leben: umgeben von idealen Ausflugszielen für Kurztrips, die viel näher liegen, als man oft glaubt.

■ In loser Reihenfolge fahren unsere AutorInnen ins Berliner Umland und schreiben darüber. Einzige Voraussetzung: Das Ziel muss für maximal 10 Euro mit der Bahn erreichbar sein.

■ Die Reihe begann mit einer Tramfahrt ins sehr nahe Rüdersdorf (erschienen am 4. August in der taz.berlin). Es folgten eine Entdeckungstour auf den Spuren der Slawen durch Biesenthal (11. August), eine romantische Kanutour, ausgehend von Erkner (13. August), und eine Wanderung durch die wilden Wälder rund um Neuruppin (18. August). (taz)

„Es ist doch jedes Jahr wieder erstaunlich, wie die Deutsche Bahn es schafft, ihre Dienstleistung so absolut überhaupt gar nicht an die Bedürfnisse ihrer Fahrgäste anzupassen“, sage ich zu Paul, als wir ölsardinenartig eingeklemmt im Regionalexpress Richtung Strahlsund stehen, mit Schweiß statt Öl zwischen uns aber ohne Sauerstoff. „Ein Glück, dass wir die Räder nicht mitgenommen haben“, sagt Paul.

Wir sind auf dem Weg nach Chorin. Dort holt uns Karin am Bahnhof ab, die ist da vor Kurzem hingezogen. Sie hat zwei Fahrräder für uns dabei und für sich einen Tretroller, damit wir schneller bei ihr am Haus sind. Man könnte sich auch Räder leihen am Bahnhof. Aber der Weg zum Kloster eignet sich eh nicht zum Fahrradfahren, sagt Karin.

Die Straße ist steinig, aber schön. Wir schreiten über die Pflastersteine, die von den Zisterziensern vor vielen hundert Jahren da hingelegt wurden. Zumindest denken wir uns das. „Fahrräder hatten die Mönche jedenfalls nicht“, sagt Paul. Ich falle einmal hin. Nichts passiert. „Gehbehinderungen können die Mönche auch nicht gehabt haben“, sage ich und stehe wieder auf.

Wir erreichen das Kloster von hinten. Der Amtsee liegt zu unseren Füßen wie in den Wald gespuckt. Vom Seehotel aus hat man eine tolle Aussicht, sagt Karin. Auf dem Klosterfriedhof will sie mal begraben werden. Ich bin skeptisch, ob das geht.

Seit 1960 gibt es den „Choriner Musiksommer“ im Kloster Chorin. Noch bis 31. August werden dort in der Ruine der ehemaligen Klosterkirche fast jedes Wochenende klassische Konzerte gegeben. Die Berliner Philharmoniker sind regelmäßig zu Gast, genauso wie das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt und das Rundfunksinfonieorchester Berlin. Karin hat schon viele Konzerte dort gehört: „Ich setz mich dann einfach auf den Friedhof, schaue auf den See und höre zu.“

Ein paar junge Leute haben es sich draußen vor den Kirchenfenstern auf einer Decke gemütlich gemacht. Sie haben Kuchen und Wein dabei. Drinnen im Innenhof des Klosters noch mehr Picknicker. Man sieht kaum noch Rasen vor lauter Decken, Schirmen, Kinderwagen und Kühlboxen. Halbnackte Kinder mit Kuchen im Gesicht hopsen durch die Gegend. Wir haben Sitzplätze in der zweiten Reihe. „Die Akustik ist aber hinten besser“, sagt Karin. „Jetz mecker nich und setz dich hin“, sage ich.

An diesem Tag wird nämlich „Peter und der Wolf“ gespielt von Sergei Prokofjew. Katharina Thalbach ist die Erzählerin. Die Freude, der Schauspielerin beim Erzählen zuzugucken, entschädigt für jeden Klangverlust. Wie sie mitgeht, die kleine Frau mit den kurzen Haaren und der halben Brille! Wie sie sich freut! Was sie mit ihrer Stimme macht! Von pieps-hoch bis greisen-heiser; von schleppend bis hektisch. Kathi Thalbach gibt ihrem Affen Zucker, dass es eine Freude ist. Beim Stolzieren der Katze tapst sie mit den Händen im Takt in der Luft, beim Tirilieren des Vogels flattert sie aufgeregt mit beiden Händen, und bei Peters beschwingtem Geigenspiel fängt sie fast an, über die Bühne zu tanzen. Ein kleines Mädchen in der ersten Reihe dreht sich im Kreis.

Karin und ich haben Gänsehaut. Wir haben beide noch die orange Eterna-Schallplatte „Peter und der Wolf“ zu Hause mit Rolf Ludwig als Sprecher, dessen schleppender sächsischer Akzent mir als Kind immer die Angst vor dem Wolf nahm, auch wenn er die Ente frisst.

Man sieht kaum noch Rasen vor lauter Decken, Schirmen und Kinderwagen

In Chorin hat der Wolf die Ente soeben verschlungen, da fängt es an zu regnen. Aber wie! Sturzbachartig ergießt sich das Wasser in den Innenhof. Die Kinder quietschen. Die Picknicker raffen ihr Zeug zusammen und flüchten in die Ruine. Regenböen durchnässen die Leute, die im Mittelschiff am Rand und weiter hinten sitzen. Keiner achtet mehr auf die Musik. „Wenn’s hier regnet, dann richtig“, sagt Karin. „Doch gut, dass wir die Plätze haben, oder?“, sage ich.

„Und es regnete und regnete“, sagt Kathi Thalbach und holt damit die volle Aufmerksamkeit des Publikums auf die Bühne zurück. Der darauf folgende Szenenapplaus lässt auch den Regen wie Händeklatschen klingen. Und als der Wolf gefangen ist, kommt sogar die Sonne wieder raus. LEA STREISAND

■ Die einfache Fahrt nach Chorin mit der Bahn kostet 8,20 Euro