Schneller sterben

Der Handel mit Toten kann ideologisch Gewinn bringen. Das wusste schon Nikolaj Erdman, dessen Satire „Der Selbstmörder“ Dimiter Gotscheff an der Volksbühne Berlin als Langlauf der Clowns erzählt

VON DIRK KNIPPHALS

So ein Selbstmord ist eine prima Sache. Jeder kann ihn sich für seine Zwecke ja passend zurechtlegen. Der Vertreter der „Intelligenz“ verkauft ihn freudig als notwendiges Opfer für die Sache. „Sterben Sie schneller!“, feuert er den Selbstmörder an und versichert: Er wird dann für die Wahrheit gestorben sein. Die Literat reklamiert den Selbstmörder für die Kunst. Der Pfaffe hat einen schönen Anlass, sich um die Seelen zu sorgen. Ehefrau und Schwiegermutter freuen sich auf ein Leben ohne Haustyrann. Und der Selbstmörder selbst? Er steigert sich in den Größenwahn hinein, eine bedeutsame Tat zu vollbringen. Es kömmt, in Abwandlung eines Marxzitats, nicht darauf an, den Entschluss zum Selbstmord zu verändern. Sondern nur darauf, ihn verschieden zu interpretieren.

Das ist das Stück „Der Selbstmörder“ des sowjetischen Schriftstellers Nikolaj Erdman (1902–1970), das junggeniehaft 1927 aufs Papier geworfen und in der Sowjetunion „wahrscheinlich“ nie gespielt wurde (wie Kindlers Literaturlexikon weiß; Erdman ist so ein Fall, bei dem man erst mal ein Nachschlagewerk zu Rate zieht). Die Volksbühne in Berlin hat es nun mit großer Geste ausgegraben: dreieinhalb Stunden Spieldauer, freigeräumte Bühne, Vorzeigeensemble. Regisseur ist Dimiter Gotscheff, alter Haudegen des Anti-Einfühlungs-Theaters. An der Volksbühne hat er zuletzt Tschechows „Iwanow“ auf so eine leere Bühne gesetzt: genau beobachtete lebensuntüchtige Menschen in einem wabernden Theaterrauch, der als einziges Requisit die Bühne ganz einhüllte. Nun, beim „Selbstmörder“, hängen als einziges Requisit Schaukeln an langen Seilen vom Theaterhimmel (Bühne: Katrin Brack): das Leben – im Kettenkarussel. Dazu verlässt sich Gotscheff diesmal vollkommen auf die derben Mittel der Groteske.

Das fängt schön launig an. Die Schauspieler Kathrin Angerer und Samuel Finzi sitzen nebeneinander auf zwei Schaukeln, die jetzt zugleich ein hartes Ehebett darstellen. Er verlangt mitten in der Nacht von ihr ein Leberwurstbrot. Sie, müde, da sie tagsüber arbeiten muss (er ist arbeitslos), ist empört: „Mit deiner Leberwurst hast du so viel bei mir zerstört.“ Samuel Finzi bringt so etwas wie eine aufgedrehte Marionette, Kathrin Angerer mit kieksender Stimme und somnambulen Augenaufschlag. Slapstickszenen einer kleinbürgerlichen Ehe.

Dann kommt die Selbstmordmaschine ins Rollen. Der Mann verschwindet einen Moment. Die Frau fürchtet, er könne sich etwas antun wollen. Die Selbstmordabsicht kommt bei den Nachbarn dann schon als Gewissheit an. Intelligenz, Literat und Priester reiben sich die Hände. Eine Art Engel der Geschichte in derbem Bolschewisten-Look hat wiederholt seinen Auftritt und betrachtet alles „vom marxistischen Standpunkt“. Und dann, inzwischen sind zweieinhalb Stunden vergangen, kommt der Höhepunkt des Abends: Samuel Finzi als armer Kleinbürger versucht, sich in einem grandiosen Solo in sein ihm aufgeschwatztes überlebensgroßes Selbstmörder-Imago einzupassen – eine 15-minütige Theatershow, in der Finzi, mit dem bei Antihelden offenbar gerade sehr in Mode seiendem nacktem Unterleib, alles aus seinem schmächtigen Körper herausholt. Kleinbürgertravestie, Hitlerkarikatur, Theaterperformance – die eineinhalb Dutzend Jungschauspieler, die als Volksmasse immer mal wieder dekorativ auf der Bühne herumturnen, können da nur staunen. Nur dass Dimiter Gotscheff dem gesamten Ensemble die Lizenz gegeben hat, den Clown in sich zu entdecken und mal so richtig die Rampensau herauszulassen. Vorlagen dazu liefert das Stück zur Genüge. Und was ein erprobtes Die-Aufführung-ist-unsere-Party-Volksbühnen-Ensemble ist, lässt sich da natürlich nicht zweimal bitten. Allen voran Herbert Fritsch als Schwiegermutter hüpft, kreischt, jammert und schaudert im Hochleistungsformat über die Bühne.

So wird aus der Wiederentdeckung dieses Stücks eine Hochleistungsvorführung von Schießbudenfiguren und dramaturgischen Abziehbildern. Kann gut sein, dass sich in dieser im Verlauf des Abends leerlaufenden Überdrehungskunst zeigt, wie offen die Türen sind, die man mit so einer satirischen Entlarvung von Weltbeglückungsprogrammen aller Art, wie Nikolaj Erdman sie vorführt, einrennt. Dass alle Ideologeme, die Opfer feiern, hohl klingen, weiß man inzwischen. Dimiter Gotscheff knallt es einem in aller Ausführlichkeit um die Ohren.

Angelegt in dem Stück, will einem in manchen Szenen zumindest scheinen, wäre auch die Möglichkeit, den spießigen Kleinbürger in sich zu entdecken. Das wäre brisanter gewesen. „Gebt uns ein stilles Leben und ein anständiges Gehalt“, fordert der Möchtegern-Selbstmörder am Schluss. Wenigstens ein paar stille Szenen hätte Dimiter Gotscheff der Inszenierung schon geben können.