Die Seismografin

LITERATUR Äußere Beben, innere Erschütterungen: Kaum wollte Lucy Fricke einen Japan-Roman schreiben, passierte Fukushima. Kaum ist das Buch fertig, wackelt in Berlin ihre Wohnung. Ein Porträt

VON CATARINA VON WEDEMEYER

Erst sollte nur das Buch erschüttern. Dann bebte im fernen Japan aber tatsächlich die Erde. Und jetzt wackelt auch noch das Haus, in dem die Schriftstellerin Lucy Fricke in Berlin wohnt. Seit Wochen tut es das, jeden Tag von 7.30 bis 17 Uhr. In der Cuvrystraße im Berlin Stadtteil Kreuzberg wird das Nachbarhaus entkernt. Schwere Bagger rückten an. Es fühlt sich in Lucy Frickes Wohnung an, als säße man auf einer Waschmaschine im Schleudergang.

„Ich muss mal eine rauchen“, sagt die Autorin und läuft barfuß über die Holzdielen. Die ganze Sache wäre irgendwo lustig, wenn sie nicht auch absurd und ein klein wenig unheimlich wäre. Eigentlich wollte Fricke über einen Geräuschemacher schreiben, der eine Manga-Zeichnerin kennenlernt. Die Katstrophe von Fukushima änderte den Plan. Jetzt ist es ein Roman über eine Geräuschemacherin geworden, die auf ihrem magischen Aufnahmegerät in Japan das Grollen der Erde hört, bevor es sich in einem Beben entlädt. Die Geräuschemacherin bleibt trotzdem in Japan. Und verliert, wie das Land, ihre Stabilität. Der Roman, „Takeshis Haut“, erscheint in der kommenden Woche.

Lucy Fricke wurde 1974 in Hamburg geboren, seit zwölf Jahren lebt sie in Kreuzberg. Sie arbeitete lange für Film und Fernsehen, gerade schreibt sie unter anderem Sketche für einen Privatsender. In Leipzig studierte sie am Deutschen Literaturinstitut, „Takeshis Haut“ ist ihr dritter Roman. Neben dem Schreiben organisiert Fricke den Literaturbetrieb auch selbst. 2010 gründete sie das Hamburger Festival Hamlit für Literatur und Musik.

Als im März 2011 in Japan das Erdbeben begann, war Lucy Fricke noch in Berlin. Bis auf das Übliche wusste sie nichts über das fernöstliche Land: Murakami, Kimonos und Kirschblüten. Und dann wusste sie auf einmal zu viel. Die Richterskala zeigte mit 9,0 die stärkste je gemessene Erschütterung. Das Seebeben löste einen 20 Meter hohen Tsunami aus, der den Nordosten Japans zerstörte. Inklusive Fukushima. Bei vier von sechs Reaktorblöcken fiel die Notstromversorgung aus, in dreien kam es zur Kernschmelze. Die Temperatur stieg auf 900 Grad Celsius, Wasserstoff explodierte. Seitdem strahlt das AKW. Die internationale Meldeskala INES stufte Fukushima als „Katastrophaler Unfall Stufe 7“ ein – höher geht nicht. Insgesamt starben fast 16.000 Menschen, 2.600 gelten bis heute als vermisst.

Mit der linken Hand sucht Fricke Gesten, mit der rechten hält sie die Zigarette. Im April 2011 sollte sie mit drei anderen Künstlern das neue Stipendium des Goethe-Instituts in der Villa Kamogawa einweihen. Am Ende traute sie sich als Einzige hin. Das Flugzeug war fast leer. Japan auch. So hatte sie die Tempelanlagen für sich allein.

Kioto liegt 520 Kilometer entfernt von Fukushima. Im Vergleich zu der Baustelle in Kreuzberg seien die Nachbeben in Kioto „fast niedlich“ gewesen, sagt die Autorin und lacht vorsichtig. Einmal hat es vibriert und die Klospülung ist von allein angegangen. Das war alles. Aber die realen Erschütterungen durch Fukushima lassen sich selbstverständlich nicht nur auf der Richterskala messen.

Nachdem sie Kaffee geholt hat, erzählt Fricke vom Making-of. Um für das Buch zu recherchieren, musste sie in ein Museum, in dem Naturkatastrophen simuliert werden. Hier trainieren Japaner für Erdbeben, Feuer und Taifune. Als Erstes kriecht man unter einen Tisch. Dann schaltet man die Strom- und Gasversorgung aus.

Durch die eigene Arbeit am Set kennt Fricke die Welt ihrer Protagonistin: Frida soll die verlorenen O-Töne für einen Film einfangen, bei dem der Darsteller nackt durch zerborstene Straßenzüge rennt. Das ist nun die Rahmenhandlung ihres Romans. Damit ist die Apokalypse vorgezeichnet. Die Realität holt im Buch dieses fiktive Szenario teilweise ein. Nur: wie schreibt man über ein Unglück wie Fukushima? Einfach ausblenden kann Fricke die Katastrophe auch nicht. Das wäre nicht zu verantworten, sagt sie.

Um Japan nicht als Kulisse zu missbrauchen, verwendet sie schließlich abwechselnd Tickermeldungen, SMS und Bildbeschreibungen: „+++ Schwere Nachbeben samt Tsunamis erwartet +++“ „Takeshi Yamamoto zul. online 14. 03. 11 10:59“ „Fukushima Daiichi. Zwei Reaktorblöcke ohne Dach, nur Gerippe. Die Betonwände hellblau gestrichen, mit weißen Tupfern. Sollten aussehen wie der Himmel.“

Zehn verschiedene Arten, „ich“ zu sagen

Das Unheimlichste ist die Strahlung. Weil man sie weder sieht noch hört. Auf einmal gehörte die Autorin zu den „Japan-Heimkehrern“ und konnte sich gratis auf Radioaktivität untersuchen lassen. Der Test war negativ. Natürlich. Das „Tschernobyl-Kind“ Lucy Fricke lacht. Wie ihre Figur kennt auch sie Leute, deren Freunde körperlich Abstand nahmen.

Fricke schüttelt den Kopf: Die Deutschen haben Fukushima hochgekocht. Jodtabletten und Geigerzähler waren in Deutschland sofort ausverkauft, trotz der Entfernung. Die Japaner dagegen kochten die Sache runter. Vielleicht hatten sie auch keine andere Chance. Das Land bietet kaum wirtschaftliche Alternativen, es gibt weder Öl noch Gas. Überhaupt herrsche in Japan eine andere Vorstellung von Atomkraft, erklärt Fricke langsam. Man unterscheidet zwischen gutem und schlechtem Atom, zwischen Strom und Bomben. Dass Atombomben schlimm sind, wissen die Japaner. Trotzdem investieren sie in AKWs, daran konnte auch das Unglück von Fukushima nichts ändern.

„Wir akzeptieren das Unvermeidliche, in der Hoffnung, dass es nie passiert“, sagt Takeshi im Buch. Takeshi ist der Mann, der bei der Protagonistin zusätzlich zum äußeren Beben eine innere Erschütterung auslöst. „Er war so wenig Mann und sie so sehr Frau“, heißt es in „Takeshis Haut“. Kann man die Liebe mit einem Erdbeben vergleichen? „Ja“, sagt die Autorin entschieden. Immer? „Ich hoffe!“

Den Vorschlag, die Japaner nach Sibirien umzusiedeln, den es gegeben hat, findet Takeshi in dem Buch nicht witzig. „Man kann seine Geschichte nicht verlassen“, erklärt Fricke. Japan ist gleichzeitig traditioneller und weiter entwickelt als der Westen. Rolltreppen, Herd und Dusche sprechen, Klobrillen lassen sich temperieren, die Ampeln zwitschern. Das alles findet sich in dem Roman wieder, in dem es auch um Orientierungsversuche in einer fremden kulturellen Umgebung geht. Und es gibt Katzencafés, die funktionieren wie ein Bordell: kuscheln gegen Geld.

Hinter Frickes Locken steigt der Zigarettenrauch nach oben und kringelt sich. Während der Arbeit am Roman fing ihre eigene Welt an zu wackeln. Die Autorin trennte sich, wechselte die Wohnung und den Lebensentwurf. Das hätte gereicht. Aber kaum war sie mit den letzten Korrekturen am Buch fertig, rückte auch noch die Abrissfirma an und schüttelt sie noch einmal durch. Wie im Buch, nur weniger metaphorisch.

Kann sie die Zukunft herbeischreiben? Nein, natürlich nicht, sagt Fricke, andersherum: Sie lebe ihren Romanen hinterher. Das sei manchmal direkt gruselig. Fricke lacht, eigentlich ist sie gar nicht esoterisch. Trotzdem: es ist, als ahne sie in ihren Büchern etwas, was sie später selbst erlebt. „Beim Schreiben bin ich schlauer als beim Leben“, sagt sie.

Aber – trotz Alliteration – Frida ist nicht gleich Fricke. Sie verteile sich immer auf alle Figuren, sagt die Autorin. Wie in der japanischen Sprache: da gibt es zehn verschiedene Namen für das Konstrukt, das im Westen schlicht „ich“ heißt. So ist der Mensch nicht ständig auf der Suche nach dem einzig wahren Selbst. „Der Kerngedanke fehlt“, sagt Lucy Fricke und erzählt, wie befreiend sie das fand.

Unter den Tisch kriechen muss die Autorin in Kreuzberg nicht, aber in der Küche klirren die Gläser. Wer durch ihre Wohnung geht, meint sowieso, dass sie den Erschütterungen unbewusst vorgesorgt habe: Das Arbeitszimmer ist bis auf einen Tisch und ein schwarzes Sofa leer – ganz die fernöstliche Ästhetik. Es gibt keine Regale, die aus den Wänden brechen könnten. Die Bücher liegen in Stapeln an die Wand gelehnt. Nabokov, Franzen, Houellebecq, alle auf Kniehöhe. „Sonst fallen sie um.“ Fricke hatte Zeit, sich eine gewisse Lakonik anzugewöhnen. Auch zu Fukushima hat sie schon jeden Witz gehört. Auf dem Japan-Stapel liegt das Buch von ZDF-Korrespondent Johannes Hano, dessen Gesicht von Meldung zu Meldung bleicher wurde. Außerdem liegen da Mangas und ein paar grottige Panikbücher.

Noch gibt es ihn nicht, den großen Fukushima-Roman. Weder in Deutschland noch in Japan. „Takeshis Haut“ ist das erste Buch, das diesen Titel verdienen könnte. Marketingtechnisch gesehen eigentlich super. Bescheiden blickt Fricke mit ihren braunen Augen auf den Tisch, sie hat fertig geraucht. „Vielleicht ist das super, ja.“

Eins ist sicher: Auch Menschen, die vorher nicht nach Japan fahren wollten – nach dem Buch wollen sie es bestimmt. Auch wenn alles bebt und zittert.

Lucy Fricke: „Takeshis Haut“. Rowohlt, Reinbek 2014, 192 Seiten, 18,95 Euro. Erscheinungstag: 29. 8.