Brunnenbohrer in Gefahr

Statt einfach Tornados nach Afghanistan zu schicken, bedürfte es einer Bilanz der Interventionen der letzten 10 Jahre und eindeutiger Kriterien für künftige Einsätze

Christian Semler, 68, seit 1989 Mitarbeiter der taz. Befasste sich seit 2001 kritisch mit Bushs lang anhaltendem „Krieg gegen den Terror“ und den verheerenden Folgen der USA-Strategie im Kampf gegen die afghanischen Taliban.

„Deutschland ist nicht erpressbar“ – so antwortete der deutsche Innenminister auf die Forderung irakischer Entführer einer deutschen Familie, die deutschen Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Weitere Erpressungen werden folgen und weitere Beweise deutscher Standfestigkeit.

Dieses erhabene Schauspiel wird die eigentliche, brennende Frage wegdrücken. Sie lautet: Folgt der Einsatz von Tornados, folgt die gesamte Intervention in Afghanistan einer komplizierten, aber erfolgversprechenden Linie? Oder haben wir uns bereits in eine Sackgasse manövriert, aus der wir kaum noch herauskommen?

Es mangelt dieser Tage nicht an Treuebekenntnissen deutscher Politiker zur „kämpfenden Truppe“ in Afghanistan. Aber überall sind Zweifel und Unsicherheit zu spüren. Es heißt, schließlich können wir unsere Verbündeten in der Isaf-Schutztruppe nicht im Regen stehen lassen. Und außerdem – sich zu verweigern, bedeutete, das Ende der Nato heraufzubeschwören.

Es bleibe also nichts anderes übrig, als weiter immerzu Ja! zu sagen. Diese einer scheinbaren Zwangslage entsprungene Logik stützt sich auf Annahmen, die wenig mit der afghanischen Realität, aber viel mit westlicher Angstproduktion zu tun haben.

Ganz so, als ob ein monolithischer Block vor uns aufragte, wird von „dem Taliban“ als einem einheitlich agierenden Gegner gesprochen, der aus einem einzigen Impetus heraus handelt – dem Hass gegen den Westen. Unter dem Diktat dieser Vorstellungen kann nicht beantwortet werden, welche Gruppen religiöser Fundamentalisten unter welchen Bedingungen bereit sein werden, mit Kabul zusammenzuarbeiten. Und noch grundlegender: Welche Kämpfer der Taliban aus eigenem religiösem Antrieb der radikal-fundamentalistischen Lehre folgen und welche die schiere Not in die Arme der Taliban getrieben hat.

Aus dem radikalen Feindbild „Taliban“ folgt notwendig das Primat der militärischen Sicherung und die Fixierung auf den schließlichen Sieg. Für die Bush-Regierung ist die dauerhafte Präsenz der Amerikaner in Afghanistan und eine pro-amerikanische Regierung in Kabul ein strategischer Faktor. Gegenüber dem Iran wie auch im Blick auf die gesamte Region. Es gibt Hinweise von Experten vor Ort, dass es gerade die USA sind, die dezentral operierende Abkommen mit Aufständischen zur Befriedung einer Region hintertreiben.

Ausdruck des massiven Zweifels an der amerikanischen Siegperspektive sind die Plädoyers für die Minderung der Zielstandards, die jetzt in der Öffentlichkeit kursieren. Im Kern besagen diese Auffassungen, man hätte Afghanistan fälschlicherweise nach 2001 ein zentralstaatliches Modell aufzwingen wollen, wo die Modernisierungsimpulse von oben nach unten, von Kabul in die Provinzen verlaufen sollten. Dieses Modell sei schon zweimal, in den 20er-und den 70er-Jahren, gescheitert, als prosowjetische Modernisierer gewaltsam versucht hatten, die Autorität der traditionellen Familien- und Stammesbindungen zugunsten der zentralen Staatsmacht aufzulösen.

Die Universalität der Menschenrechte muss ebenso gelten wie das Selbstbestimmungsrecht der Nationen

Interessant an diesem Argument sind die möglichen politischen Schlussfolgerungen: Abkehr von der durch eine zentral operierende politische Elite verkörpernden Durchbruchsmentalität. Verhandlungen mit den der Tradition verbundenen Führungskräften auf Stammesebene. Kompromisse bei der notwendigen Durchsetzung demokratischer Rechte. Vor allem aber ein Hilfsprogramm, das die Not im Süden des Landes bekämpft.

„Ich habe alles Vertrauen in die Ausländer verloren“ – das ist die Bilanz, die ein afghanischer Polizeioffizier aus der Provinz Kandahar im Jahr 2006 gezogen hat. Und dieser Satz beschließt auch den jüngsten Bericht des unabhängigen britischen Forschungsinstituts Senlis zur Lage in Afghanistan. Der Senlis-Bericht weist nach, dass die Milliardensummen, die seit 2001 nach Afghanistan geflossen sind, das afghanische Volk nicht erreicht haben. Auf dem Land, vor allem in den Südprovinzen, herrscht endemische Hungersnot, für die medizinische Versorgung stehen keine Mittel zur Verfügung, die Arbeitslosigkeit ist unverändert hoch. Dies ist die materielle Grundlage dafür, dass der religiöse Fundamentalismus der Taliban, der vor fünf Jahren bankrott war, wieder erstarkt ist.

Aber sind solche Begründungen für eine alternativen Strategie in Afghanistan nicht völlig irrelevant, weil gegenwärtig der Zug in die genau entgegengesetzte Richtung abgeht? Die Isaf-Nato-Schutztruppe hat sich schon jetzt der Kommandogewalt der US-geführten Operation „Enduring Freedom“ unterworfen, sie ist von ihr in den Augen der Afghanen zunehmend ununterscheidbar geworden. Weshalb konkrete, dem afghanischen Volk nützliche Hilfsprojekte nicht korrigierend wirken können. Mögen „die Deutschen“ als Brunnenbohrer und Straßenbauer auch noch so beliebt sein. Sie werden als Hilfstruppe der Amerikaner wahrgenommen werden. Zog also die Fraktion der Linken im Parlament nicht die einzig realistische Konsequenz, als sie nicht nur dem Einsatz der Tornados die Zustimmung verweigerte, sondern den sofortigen Abzug des deutschen Truppenkontingents forderte?

Das hängt davon ab, wie die Position derjenigen Grünen und linken SPD-Abgeordneten zu bewerten ist, die mit ihrem Nein zum Tornadoeinsatz die Forderung nach einen „Strategiewechsel“ in Afghanistan vom Militärischen hin zum Zivilen verbinden. Formal hat auch die Nato vom Strategiewechsel gesprochen. Damit ist aber gerade nicht angestrebt, dass die Isaf-Truppen aus dem amerikanischen Kommando herausgelöst werden und nicht länger als deren Hilfstruppe fungieren. Der Forderung nach einem sofortigen Truppenabzug kann nur glaubwürdig begegnet werden, wenn der „Wechsel zum Zivilen“ mittels eines klaren Bruchs mit der bisher verfolgten Interventionsstrategie erfolgt – und dies nicht nur im Fall Afghanistans.

Was dringend ansteht, ist eine Debatte über die Grundlagen der deutschen Beteiligung an internationalen Militäreinsätzen. Die Vielzahl deutscher Beteiligungen an solchen Einsetzen haben militärische Interventionen quasi zu einem Selbstläufer werden lassen. Die ursprünglich verfolgten Ziele – siehe der Afghanistan-Einsatz – sind völlig aus dem Blickfeld geraten. Wie auch der einstmals als selbstverständlich angesehene Grundsatz vergessen wurde, dass zivile Konfliktverhinderung und -lösung der Regelfall bei internationalen Interventionen wäre.

George Bush hat nicht jeden Gedanken an die Berechtigung humanitärer Interventionen zerstört

Es trifft nicht zu, dass die Menschenrechts- und Freiheitsdemagogie George W. Bushs jeden Gedanken an die Berechtigung humanitärer Interventionen zerstört hätte. Sie sind nicht notwendig Verschleierungsmanöver für imperiale Interessen. So zu argumentieren, verriete einen allzu bequemen Prinzipialismus. Was aber dringend nottut, ist eine Interventionsbilanz der letzten zehn Jahre. Und ein paar wetterfeste Grundsätze, die sich an der Universalität der Menschenrechte ebenso orientieren wie am Selbstbestimmungsrecht der Nationen.

CHRISTIAN SEMLER