„Ausradiert, was flottierte“

LESUNG Sönke Busch, Ramon Locker und Ramona Ariola suchen den Moloch in der Überseestadt

■ 49, alias Ramona Ariola, ist Sängerin und Performerin. Sie leitet die „Golden City Hafenbar“, die noch bis zum 14. 9. täglich öffnet.

taz: Frau Wilhelm, wie viel Schmutz und Graffiti fehlen der Überseestadt, um ein lebendiger Stadtteil zu werden?

Frauke Wilhelm: Es gibt hier tatsächlich bislang keinerlei Schmuddelecken, irgendetwas, was spontan und provisorisch wäre und zwischen den Reißbrett-Bauten blühen darf. Mein Kollege Ramon Locker hat gesagt: „Erst wenn der erste Penner auf dem Lüftungsschacht liegt, dann ist das hier Stadt.“ Was der Überseestadt fehlt, kommt erst, wenn man ein bisschen Schmutz zulässt. Davon handelt unsere heutige Lesung.

Ist es nicht zynisch, soziales Elend für städtische Aufwertung einzufordern?

Es geht nicht um soziales Elend, sondern um eine Mischung, die man zulässt. Im Ostertor-Viertel zum Beispiel ist Leben, weil alle ihren Platz haben, von der Boutiquen-Besitzerin über den Penner, die Oma und den türkischen Imbiss-Besitzer. In Walle hat man in den 50er Jahren angefangen, das zu verdrängen.

Inwiefern?

Aus alten Polizeiakten geht hervor, dass die Behörden damals versuchten, die sexuellen Ausschweifungen in den Griff zu bekommen und das Rotlicht-Milieu in die Schranken zu weisen. Es folgte eine jahrelange Eingrenzung des Lasters und der Freude. Damals wurde mit viel Mühe alles ausradiert, was frei flottierte. 40 Jahre später entsteht ein Stadtteil der glatten Flächen, mit Lofts in Auto-gerechter Umgebung.

Selbst im angesagten Ostertor-Viertel gibt es die Tendenz, vermehrt Sauberkeit und Ordnung herzustellen…

Das ist ein Trend, der in allen Großstädten vorherrscht. Man tut sich damit keinen Gefallen. Wer will schon die sauber gefegten Betonwüsten, die man aus den Vorstädten kennt, aus Osterholz-Scharmbeck oder Ritterhude? Die Frage ist, ob man als Gesamtbürger einer Stadt eine lebendige Mischung aushalten kann. Die Überseestadt hat ja bereits eine eigene Bürger-Ini, die gegen den Skaterpark mobil macht. Das ist gruselig. Man möchte die „laute“ oder gleich „kriminelle“ Jugend, die Ausländer und alle Existenzen weg habe, die einem Angst machen. Das erzeugt die toten Innenstädte.

Mit Ihrem Kunst-Projekt, der temporären Hafenbar „Golden-City“, halten Sie also dagegen?

Wir sind eine Landnahme, relativ frech und stehen dafür, dass man doch noch etwas machen kann, was nicht so geplant ist. Und wir senden eine Botschaft an die Waller: Sie müssen sich den Stadtteil nehmen, da kann noch sehr viel gehen.

Warum schafft es eigentlich eine Behörde nicht, einen Stadtteil lebendiger zu planen?

Für die Überseestadt kann ich es genau sagen: Die wurde nicht unter der Ägide des Bauressorts geplant, wo man auch an Stadtentwicklung denkt, sondern durch die Wirtschaftsförderung Bremen. Und die hatte eine wirtschaftliche Vermarktung vor Augen. Es wurden niemals kleine Parzellstücke verkauft, sondern nur große Flächen an Investoren vergeben, um möglichst schnell einen Business-Stadtteil zu erschaffen.  Interview:jpb

„Oh Stadt, Du goldener Moloch“:

20 Uhr, Europahafenkopf, Ludwig-Franzius-Platz. Infos und Tickets: www.goldencity-bremen.de