Der Tigris soll alles ertränken

AUS HASANKEYF ANTJE BAUER

„Wenn du für den Staudamm bist, sag’s gleich. Dann rede ich gar nicht erst mit dir“, sagt Hasan Yilmaz. Der junge Schlosser steht im Halbdunkel seiner Werkstatt, eingekeilt zwischen eisernen Fenstern und Türrahmen. Warum so unfreundlich? „Niemand wäre doch damit einverstanden, dass sein Geburtsort verschwindet“, erklärt er, „schon gar nicht, wenn es ein Ort wie Hasankeyf ist. Aber mit ihrem ständigen Gerede vom Staudamm haben die in Ankara uns kaputtgemacht. Keiner will hier mehr investieren.“ Hasan weiß, wovon er spricht: Weil es keine lukrativeren Aufträge gibt, schweißt der 24-Jährige zurzeit Blecheimer zusammen.

Bei seinem Nachbarn Yusuf Airdayi ist es so eng, wie es sich für den Kramladen eines abgelegenen anatolischen Orts gehört. Jede Ecke, jedes Regal hat er vollgestellt mit Mehltüten und Seifenpulver, Öl, Gewürzen, Schulheften, Zigaretten. Yusuf ist ein gesetzter Mann mittleren Alters, weit entfernt von des jungen Schlossers brennender Wut. „Setz dich her“, sagt er, zieht einen Holzschemel heran und bestellt ein Glas Tee für den Gast. Auf der Hauptstraße fährt ein einzelnes Auto vorbei, dann herrscht wieder Stille. „Wir Händler gehen hier pleite“, hebt er zu klagen an. „Seit zwanzig Jahren kündigt man uns den Staudamm an – aber nichts passiert. Sollen sie den Damm doch endlich bauen, dann wüssten wir wenigstens, woran wir sind! Meinetwegen sollen sie uns nach Europa verfrachten – wenn nur endlich diese Warterei ein Ende hat.“ Drei Schulmädchen kommen herein und kaufen für ein paar Kurusch Süßigkeiten, ein Mann verlangt eine Schachtel Zigaretten, dann hockt sich der Krämer wieder auf sein Stühlchen hinter dem Tresen und wartet auf den Feierabend.

Das Wasser soll steigen

Ein paar hundert Meter von Yusufs Laden entfernt, hügelabwärts, fließt schnell und glucksend der Tigris. Jahrhunderte lang hat der Fluss für den Reichtum von Hasankeyf gesorgt, nun soll er dessen Schicksal besiegeln. Die Kraft des Tigris will die türkische Regierung zur Energiegewinnung nutzen, sie will den Fluss stauen. Dafür nimmt sie auch in Kauf, dass die antike Stadtfestung Hasankeyf von der Erdoberfläche verschwindet. Im Zuge des ehrgeizigen Südostanatolien-Programms GAP plant der türkische Staat, hier einen gigantischen Staudamm zu errichten. Dafür würde der Tigris die Häuser im Tal überfluten, er würde die Obstgärten am Ufer ertränken und die Gräber auf dem Friedhof wegschwemmen. Verschwinden würden auch die jahrhundertealten Ruinen, die noch heute an Hasankeyfs große Vergangenheit erinnern. So hoch soll das Wasser steigen, dass sogar die Höhlen im Felsen über dem Tigris geflutet werden.

Gerade das wundert die Bürger von Hasankeyf. In den Höhlenwohnungen haben sie noch bis vor vierzig Jahren gelebt – bis die türkische Regierung befand, das sei nicht zeitgemäß, und die Bewohner in gesichtslose Häuschen am Ortsrand umsiedelte. Vor zwei Jahren, im Sommer 2005, hatte Abdul Vahab Kusen, der Bürgermeister von Hasankeyf, die Idee, neugierigen Touristen die Höhlen zu zeigen. Umgehend hatte er eine Klage am Hals, denn die Höhlen stehen unter Denkmalschutz.

„Weil es eine geschützte archäologische Stätte ist, wurde uns verboten, auch nur einen Stein zu verrücken!“, schimpft er. „Aber die Höhlen völlig zu vernichten, das ist offenbar erlaubt.“ Kusen, entschiedener Gegner des Staudammprojekts, hat sich eine schlagende Argumentation zurechtgelegt. „Hasankeyf ist Mesopotamien“, sagt er. „Die Menschheit ist hier entstanden. Und wir machen einen so wichtigen Ort zunichte!“ Mit seiner schweren Bauernhand weist er auf die Hochebene auf der anderen Seite des Flussufers. „Dort drüben baut die Regierung ein neues Hasankeyf“, sagt er. „Aber dort gibt es nicht genug Ackerland für uns alle. Außerdem ist es eigentlich gleichgültig, ob es ein neues Hasankeyf geben wird oder nicht – das alte verschwindet, das ist schlimm genug.“

Kusen hat sich stark gegen den Staudammbau engagiert und auch Unterstützung von außen bekommen: von den Bürgermeistern der umliegenden Städte Diyarbakir und Batman, von der Bürgerinitiative „Hasankeyf muss leben“, von Umweltschützern aus Ankara und Istanbul. Mittlerweile engagieren sich auch international Umwelt- und Menschenrechtsgruppen für die Hasankeyfer, indem sie Druck auf die am Bau beteiligten Länder machen (s. Text rechts).

Heute ist mal wieder Güven Eken von der türkischen Organisation Doa („Natur“), vor Ort. Doa hat schon mehrere Aktionen für den Erhalt von Hasankeyf organisiert. Eken erklärt, warum: „Das Tigristal ist unter Naturschutzaspekten sehr wichtig. Es gibt hier seltene Tiere und Pflanzen, die nach dem Berner Abkommen und UN-Habitat geschützt sind. Schon deshalb würde so ein Staudammprojekt weder in Deutschland noch in Österreich umgesetzt werden.“

Bürgermeister Kusen hört dem redegewandten Großstädter aufmerksam zu. Die Staudammplaner haben es nicht für nötig befunden, den Bürgermeister in ihre Pläne einzubeziehen. Von dem Ökologenlatein, das Eken spricht, versteht er vermutlich auch nur einen kleinen Teil. Aber immerhin, Eken und die jungen Leute aus den Städten unterstützen seinen Kampf gegen den Staudamm.

Anders ist das bei den meisten Dorfbewohnern. Sie kämen gar nicht auf die Idee, sich gegen den Staat aufzulehnen. Ein Rentner, der vor der Teestube sitzt, antwortet auf Nachfrage: „Der Staudamm ist ein Riesenprojekt, dagegen kann niemand etwas ausrichten“. Ein anderer sagt: „Das ist eine Angelegenheit des Staates. Und der macht immer, was er will.“ Dann kommen sie doch ins Reden und Träumen. Ob man in Hasankeyf statt des Staudamms nicht eine kleine Konservenfabrik bauen könnte? Hier wachse doch alles: Auberginen, Tomaten, Feigen, Granatäpfel … Oder man könnte doch nur einen klitzekleinen Staudamm bauen, so klein, dass der Ort erhalten bliebe und zur Touristenattraktion würde? Dann könnten sie auch wie bisher jeden Freitag auf dem Friedhof ihre Toten besuchen.

Das soll verschwinden?

Eine Schafherde trappelt durch eine Gasse, angetrieben von den rauen Rufen der Hirten. Die einzige Pension des Orts ist geschlossen. Die 500 Jahre alte Rizk-Moschee liegt verwaist; im Vorhof riecht es feucht und modrig. Auf der Straße, die hinauf zum Steilfelsen, zu den berühmten Höhlenwohnungen führt, spielen Jugendliche Fußball.

In den Höhlen, die die Bewohner von Hasankeyf in den Siebzigerjahren verlassen mussten, zeugen Rußspuren von vergangenem und Uringestank von heutigem Leben. Ein paar türkische Touristen traben durch Mauerreste, Ruinen vergangener Zivilisationen, gebaut auf den Resten noch weit länger zurückliegender Gesellschaftsformen. Seit 9.000 Jahren ist die Gegend am Tigris besiedelt, noch längst ist nicht alles ausgegraben, was hier an Altertümern schlummert.

Von oben auf dem Steilfelsen schweift der Blick von den Überresten des Artukiden-Palasts weit über das schmale, gewundene Tal, durch das sich der schimmernde Fluss schlängelt. Aus dem Tigris ragen 800 Jahre alte kolossale Brückenpfeiler, sie sind das Wahrzeichen von Hasankeyf. Schon etwas außerhalb des heutigen Ortes schimmern auf einem Grabmal türkisfarbene Fayencen, verschwommen ist die verfallende Kirche aus frühchristlicher Zeit zu erkennen. Das alles soll verschwinden?

Stille liegt über dem Land, nur gelegentlich unterbrochen von Vogelgezwitscher. Hoch oben zieht ein Raubvogel seine Kreise.