Neun Kilometer Nacktjogging

TANZEN Das Festival Brasil Move Berlim zeigt diese Woche beeindruckende Produktionen des zeitgenössischen Tanzes aus ganz Brasilien. Schon der Auftakt war ein kleiner Skandal, der der Veranstaltungsreihe nur guttut

Der brasilianische Tanz wird immer vielfältiger. Immer interessanter werden die kleinen Orte abseits der riesigen Metropolen

VON CARSTEN JANKE

Dieses Stück war ein kultureller Kurzschluss. Peng! Als nach der Europapremiere von „Matadouro“ die Lichter wieder angingen, taumelten die Zuschauer zum Sektempfang oder lieber gleich nach Hause, mit dem unbestimmten Gefühl, verarscht worden zu sein.

Anderthalb Stunden zuvor war noch alles perfekt: das Theater HAU1 ausverkauft, im Publikum ranghohe Persönlichkeiten der deutschen und brasilianischen Kulturpolitik, drei kleine Eröffnungsreden zum Auftakt des fünften Festivals für Tanz aus Brasilien, Brasil Move Berlim. Zwei Jahre hatte man seit dem letzten Festival warten müssen, um so viel Erstklassiges aus dem zeitgenössischen brasilianischen Tanz in Berlin zu sehen.

Dann gehen die Lichter aus. Ein nackter Tänzer mit Katzenmaske schlägt die Surdotrommel, regelmäßig erst, dann verschlungen, am Ende einen afrobrasilianischen Rhythmus. Die Tänzer, sieben Männer und eine Frau, kommen auf die Bühne. Sie ziehen sich aus, bleiben in einer Reihe stehen, mit dem Hintern zum Publikum. Nach zehn Minuten beginnen sie im Kreis zu rennen. Acht Nackte joggen in Masken und Turnschuhen zur Musik von Franz Schubert. Und sie laufen und laufen und laufen und laufen. Eine Stunde lang.

Nach einer halben Stunde gehen die ersten Zuschauer. Nach vierzig Minuten ist auch die Ironiegrenze überschritten. Das hier muss ernst gemeint sein. 55 Minuten Nacktjogging sind es am Ende oder 9 Kilometer. Als alle zum Stehen kommen, ist das Publikum irritiert. Einer klatscht, in der Hoffnung, es sei vorbei. Andere schließen sich nur zögerlich an, in der Hoffnung, es sei noch nicht vorbei. Dann wieder Stille. Am Ende wogt versöhnlicher Applaus auf, und die Tänzer verbeugen sich höflich.

Dieses Stück war das Beste, was dem Festival passieren konnte. Keine schönen Körper, kein Rhythmus im Blut, kein Samba, keine Akrobatik und keine schönen Farben. Nicht mal alle Masken waren brasilianisch. Und mit all diesen Erwartungen lösten sich auch die Befürchtungen in Luft auf, Brasilien und sein Tanz, seine Tänze würden mit so einem Festival verklärt und exotisiert. Auch in Brasilien war „Matadouro“ übrigens ein Erfolg. Die brasilianische Theaterkritikerin Helena Katz spricht von „einem der wichtigsten Stücke des Jahrs 2010“.

Hauptthema Gender

Der kulturelle Kurzschluss von „Matadouro“ war auch personell. Der Choreograf und Tänzer Marcelo Evelin, der dieses Stück kreierte, hat zwanzig Jahre in Europa gearbeitet, unter anderem mit Pina Bausch, bevor er 2006 nach Brasilien zurückkehrte. Dort leitet er seitdem ein kleines Tanztheater im Nordosten Brasiliens.

Als ihm vor zwei Jahren die kommunale Förderung für sein fortschrittliches Programm gestrichen wurde, zog er in eine Lagerhalle um. Finanziert wird die Gruppe seitdem durch ein brasilianisches Förderprogramm und die Kulturinvestitionen eines Erdölkonzerns. Auch in Deutschland eckt Evelin mit einem Stück wie „Matadouro“ an. Aber er habe nie Angst um ein Stück, „ich habe Angst um mich, um mein Wirken“. Diese Entschlossenheit ist es, die Wagner Carvalho und Dirk Schlüter, die Kuratoren des Festivals, in Brasilien suchen: „Die Tanzgruppen werden durch die schwierigen finanziellen Bedingungen zusammengeschweißt. Es gibt eine existenzielle Notwendigkeit, Kunst zu machen. Da bekommen auch die Arbeiten eine andere Bedeutung.“

Die anderen Stücke von Brasil Move Berlim zeigen das. Gender ist ein Hauptthema in diesem Jahr. Zum Beispiel bei „Etikett“ von Charlene Sadd und in „Outdoor Corpo Machine“ von André Masseno. Charlene Sadd verschlingt zu Beginn ihrer Performance ein halbes Kilo Götterspeise in lustvollen Schlucken und springt danach fünf Minuten auf der Stelle. Sie versucht in den absurdesten Körperhaltungen, ihre Digitalwaage zu überlisten, und während sie über ihre Mitgliedschaft bei den Anonymen Anorexiekranken erzählt, schnürt sie sich ihre vermeintlichen Problemzonen mit Paketklebeband zusammen. Diese Frau ist auf der Jagd nach den richtigen Etiketten für ihren Körper, schon vom Zusehen wird einem bei dieser Tortur übel.

Für Dirk Schlüter sind solche Stücke ein Zeichen für ein „Auffächern der Themen“, nach den starken Politisierungen der vergangenen Jahre. Der brasilianische Tanz wird immer vielfältiger. Immer interessanter werden kleine Orte, abseits der Millionenmetropolen Brasiliens. Und das nicht wegen, sondern trotz einer staatlichen Kulturförderung, die neue Tanzprojekte systematisch benachteiligt. Brasil Move Berlim trägt seinen Teil zu dieser erfreulichen Entwicklung bei.

Am Montag und Dienstag ist Marcelo Evelin noch einmal in einem eigenen Stück zu sehen. Zu den männlichen Schönheitsidealen in Brasilien tanzt am Mittwoch und Donnerstag André Masseno.

■ Noch bis Samstag in den Theatern des HAU, Programm und Tickets unter moveberlim.de