„Es ist so unnötig“

In Osdorf ist die Leiche eines Säuglings entdeckt worden. Ein Hinweis, dass Hilfsangebote fehlen? Ein Gespräch mit dem Geschäftsführer des Hamburger Kinderschutzbundes, Uwe Hinrichs

UWE HINRICHS, 56, ist seit 30 Jahren hauptamtlicher Geschäftsführer des Hamburger Kinderschutzbundes. Foto: privat

INTERVIEW: FRIEDERIKE GRÄFF

taz: Am Wochenende ist in Osdorf ein Säugling entdeckt worden, der nach der Geburt aus dem Fenster geworfen und so getötet wurde. Ist das ein Hinweis, dass die Hilfsangebote noch niedrigschwelliger werden müssen, Herr Hinrichs?

Uwe Hinrichs: Ich bin von solchen Fällen immer sehr berührt, weil es so völlig unnötig ist. Es gibt die Möglichkeit, das Kind zur Adoption frei zu geben oder es vor einem Krankenhaus so abzulegen, dass es zumindest sicher gefunden wird.

Lässt sich allgemein etwas über die Lage der Mütter sagen?

Wir müssen davon ausgehen, dass die Mutter das nicht leichtfertig getan hat. Wir haben es häufig mit jugendlichen Müttern zu tun, die völlig isoliert leben und ihre Schwangerschaft geheim gehalten haben. Und die keinen Bekanntenkreis und vor allem keine Eltern haben, denen sie sich anvertrauen können.

Muss man angesichts der Isolation der Mütter zugeben: Wir können nicht alle erreichen?

Wir können noch so viel aufklären, noch so viel niedrigschwellige Angebote machen: Es wird immer wieder zu Kindestötungen kommen, weil es immer Mütter geben wird, die die Hilfe nicht erreicht, vor allem diejenigen, die weder Gynäkologen noch Hebamme aufsuchen. Natürlich brauchen wir trotzdem noch mehr niedrigschwellige Hilfen. Wir müssen noch früher an Mütter und Familien in schwierigen Lebenslagen herankommen.

In Hamburg gibt es ein Beratungstelefon für geheime Schwangerschaften, eine Notrufnummer, die Möglichkeit einer anonymen Geburt in allen Kliniken, eine Babyklappe – es ist schwierig, sich noch einen neuen Hilfsansatz vorzustellen.

Deswegen sind wir, und nicht nur wir, häufig völlig hilflose Helfer.

Wen könnte man noch stärker einbinden?

Gerade die Schule ist wichtig. Man muss schon dort den Jugendlichen klar machen, wie zugänglich das Hilfesystem ist, dass Schwangerschaft keine Schande ist und dass man verantwortungsvoll sein Kind zur Adoption frei geben kann. Das müsste fester Teil des Lehrplans werden – und nicht dem einzelnen Lehrer überlassen sein.

In den Medien wird viel über Säuglingstötungen berichtet. Steigt die Zahl tatsächlich?

Die Anzahl der Kindestötungen ist in den letzten zehn Jahren Gott sei Dank sehr stark zurückgegangen. Aber die Medien nehmen das Thema gern auf.

Worauf führen Sie den Rückgang zurück?

Auf bessere Beratungsangebote und in Hamburg auch auf den Fall des Kindes Jessica. Man kann dem Senat vorwerfen, er mache nicht genug, aber es wurden zusätzliche Beratungsangebote geschaffen, frühe Hilfen und Projekte mit Familienhebammen – auch wenn man immer mehr Geld dafür ausgeben könnte.