Die Glocken des Grauens

Die lauteste Woche der Welt: Es gibt nur ein Mittel, um Kirchenlärm zu beseitigen

„Dédé auf Tinga. Riesenchance für …“ Der Rest ist nicht mehr zu hören. Wie jeden Samstagnachmittag läuft die Übertragung der Bundesliga im Internetradio. Und wie jeden Samstagnachmittag fängt im entscheidenden Moment die Kirche von gegenüber an zu dröhnen. Trotz geschlossener Fenster ist vom Reporter kein Wort mehr zu verstehen. Dafür pocht das Herz umso lauter, Adrenalin schießt ins Blut – nicht nur, weil die Schwarzgelben dringend mal ein Tor schießen müssten, sondern weil Lärm irgendwann wahnsinnig und auf Dauer auch unberechenbar macht.

Seit vielen Jahren geht das schon so. Die katholische Kirche schräg gegenüber läutet ständig: zu Gottesdiensten und feierlichen Anlässen, nachmittags zur Dreiviertel- und zur vollen Stunde. Samstags ist es besonders schlimm, da kommen die Hochzeiten hinzu. Offenbar treiben’s die Katholen wie die Karnickel und müssen vor dem Wurf noch schnell heiraten. Das geht im Schichtbetrieb, manchmal sind es drei, vier Hochzeiten zur besten Bundesligazeit. Hochschwangere Bräute ganz in Weiß, und geläutet wird immer.

Das ist auch kein harmonisches und wohlklingendes Geläute, eher ein schepperndes Dingdong. Beim Gießen der großen Glocke müssen sie einen Fehler gemacht haben, denn auch im Nachhall klingt sie schief und schrecklich. Da wird einem sehr schnell klar, dass die aggressivsten Religionen auch die lautesten sind. Der Muezzin auf seinem Türmchen ist auch nicht schlimmer – selbst wenn er für das „Allahu akbar“ fünfmal täglich ein Megafon benutzt.

Das Schlimmste aber bleiben die Kirchenglocken. Ihre überflüssige Bimmelei bringt einen besonders in Rage. Da kann man sich leicht mal vorstellen, aus dem Fenster auf die Kirche zu schießen. Vom einfachen Gewehr geht die Fantasie über zum Maschinengewehr. Aber das schönste Ra-ta-ta-tat nutzt hier nichts, Gewehrkugeln auf einer Glocke erzeugen höchstens Querschläger – das Geräusch kennen viele noch aus alten Western. Da müssen härtere Waffen ran. Handgranaten sind ungeeignet, der Turm ist zu hoch und man kann danebenwerfen. Eine Panzerfaust – das ist es! Damit lässt sich wunderbar vom Balkon aus auf den Kirchturm feuern. Es ist nur darauf zu achten, dass vom Rückstoß nicht die Blumentöpfe weggefegt werden. Noch größere Waffen wie Scud- oder Stinger-Raketen sind schon wieder ungeeignet. So eine Panzerfaust lässt sich samt Munition doch garantiert bei irgendwelchen Russen auftreiben.

Derartige Gewaltfantasien sind gesund, sie dienen dazu, ein Minimum an physisch-psychischer Integrität zu wahren. Lärm ist ein „Gewalt-Faktor“, schreibt der Psychiater Volker Faust völlig zu Recht – kein Wunder also, dass der Mensch mit Gegengewalt reagiert, auch wenn sie nur im Imaginären stattfindet. Es ist nicht nur das Geräusch, das sich unbarmherzig durch sämtliche Poren in den eigenen Körper hineinbohrt und Gedanken, Geist und Psyche zerschrotet. Dagegen gilt es, sich mit aller Kraft zu wehren. Erst recht, als auch noch die Großbaustelle entstand.

Ein komplettes Mietshaus samt Tiefgarage wurde auf dem bislang freien Nachbargrundstück hochgezogen – und das in einem dieser heißen Berliner Sommer, gefühlte Temperatur 45 Grad. „Ich liebe den Geruch von Napalm am Morgen!“ – der Satz aus „Apocalypse Now“ bekommt da völlig neue Bedeutung. Doch schützen Fantasien keineswegs vor körperlichen Qualen. Kreislaufstörungen und Magenbeschwerden stellten sich ein. Tagelang gibt es nur in Milch getunkten Zwieback. Und dann taucht da plötzlich noch etwas auf, ein lästiges Geräusch im Ohr, eine Mischung aus Fiepton und Klingeln: Tinnitus. Wenn endlich die Kirchenglocken zum letzten Mal geläutet haben und die Bauarbeiten um 20 Uhr beendet sind, bleibt noch der körpereigene Geräuschgenerator. Nachts verzweifelt im Bett liegen und nicht schlafen können, weil die Ohrengeräusche stören.

Das erzeugt Rundumschlagsvisionen: Der riesige Baukran fällt auf die Kirche, zerstört dabei die Baustelle und den Kirchturm mit den Glocken und versperrt zugleich die Straße für den Autoverkehr. Auch für die Unterbrechung des Verkehrs aus der Gegenrichtung wird gesorgt. Dazu wird ein Sprengsatz an die östlich liegende S-Bahnbrücke angebracht, der im richtigen Moment detoniert und ein riesiges Loch in die Fahrbahn reißt. Nun herrscht endgültig Ruhe.

Schon im alten China wurde Lärm als Foltermethode eingesetzt. Mit Hilfe einer großen Glocke wurden dort Menschen hingerichtet, durch den Anschlag gingen die Menschen an extremen Stressreaktionen zugrunde. Auch heute noch wird in einigen Ländern starker Lärm als Foltermethode eingesetzt, wie amnesty international berichtet. Das nennt sich „weiße Folter“, weil später keine Spuren nachgewiesen werden können.

Inzwischen sind die Bauarbeiten beendet, und eines Tages verschwand auch der Tinnitus. Geblieben ist der Bimmelton-Terror von gegenüber – inmitten des tosenden Straßenlärms. Da haben es die Kaninchen in der Nähe schon besser. Ihnen zuliebe wurde mal ein Baustopp an einer wichtigen Ost-West-Achse verhängt, um einen sich dort befindlichen Karnickelpfad zu schützen. PETRA ZORNEMANN

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