Fernsehen vor Gericht

Ab heute wird vor dem Hamburger Oberlandesgericht verhandelt, ob die ARD den Fernsehfilm „Eine einzige Tablette“ über den Contergan-Skandal zeigen darf – ein Präzedenzfall für das fiktionale TV

Ende der Fünfzigerjahre kamen in Deutschland vermehrt Kinder mit Behinderungen der Gliedmaßen oder der inneren Organe zur Welt. Schuld daran war das Beruhigungsmittel Contergan, das von 1957 und 1961 häufig schwangeren Übelkeit empfohlen wurde. Bis zu 4.000 Neugeborene wurden in Deutschland geschädigt. Die Pharmafirma Grünenthal, die das Produkt entwickelt hatte, hatte das Produkt trotz Warnungen über beobachtete Fehlbildungen weitervertrieben. Nach einem mehrjährigen Prozess um den Contergan-Skandal stellte das Aachener Landgericht im Jahr 1970 das Verfahren gegen sieben leitende Angestellte der Firma Grünenthal ein, das Unternehmen zahlte 100 Millionen Mark als Entschädigung in eine Contergan-Stiftung ein. RA

VON HANNAH PILARCZYK

Adolf Winkelmann hat soeben einen Fernsehfilm fertig gestellt, in dem er zeigt, wie eine Familie mit der schweren Behinderung ihrer Tochter umgeht. Aller Voraussicht nach zeigt die ARD „Engelchen flieg 2“ Ende Mai. Der Regisseur hat aber auch einen anderen Fernsehfilm über eine Familie mit behinderter Tochter gedreht. Ob der aber jemals im Fernsehen laufen wird, wird ab heute weiter vor Gericht verhandelt. Denn in „Eine einzige Tablette“ hat sich Winkelmann des Contergan-Skandals angenommen. Das Pharmaunternehmen Grünenthal, das das Medikament herstellte, hat die Ausstrahlung der WDR-Produktion bislang verhindern können.

„Wir sind guter Hoffnung, dass unsere Rechtsauffassung auch in der nächsten Instanz bestätigt wird“, gibt sich Sebastian Wirtz, geschäftsführender Gesellschafter von Grünenthal, optimistisch. Die Aachener Firma hatte in den 1950er-Jahren das Schlafmittel Contergan auf den Markt gebracht, das bei ungeborenen Kindern zu schweren Missbildungen führte (siehe Kasten).

Seitdem bekannt wurde, dass der WDR und die Produktionsfirma Zeitsprung an einer fiktionalen Aufbereitung des Contergan-Skandals arbeitete, galt bei Grünenthal höchste Alarmbereitschaft. Im Dezember 2005, einen Monat nach Drehbeginn, war die Firma in den Besitz des Drehbuchs gelangt – „auf legale Weise“, wie man in Aachen betont. Auf der Grundlage dieses Drehbuchs erwirkte Grünenthal im Juli 2006 schließlich auch eine erste einstweilige Verfügung gegen den Film: Zahlreiche das Unternehmen betreffende Begebenheiten das Unternehmen seien verfälscht wiedergegeben. Karl-Hermann Schulte-Hillen, ein damaliger Opferanwalt und selbst Vater eines Contergan-geschädigten Sohnes, klagte ebenfalls. Er fühlt sich durch den Film in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt. Die Hauptfigur von „Eine einzige Tablette“, der Anwalt Paul Wegener, ist an Schulte-Hillen angelehnt.

Das Hamburger Landesgericht, vor dem die einstweilige Verfügung verhandelt wurde, gab Schulte-Hillen voll – und Grünenthal weitgehend recht. „Eine ausreichende Verfremdung der aus der Wirklichkeit entlehnten Vorgänge lässt sich nicht feststellen“, urteilte es – allerdings ohne vollständige Ansicht des zu diesem Zeitpunkt bereits fertig geschnittenen Films, sondern allein aufgrund des Drehbuchs. Dennoch war die für November 2006 geplante Ausstrahlung gestoppt. Und mehr noch: Indem der vorsitzende Richter den fiktionalen Charakter des Films verneinte, war die Grundlage aller fiktionalen Aufbereitungen von historischen Ereignissen plötzlich in Frage gestellt. Wenn einerseits Filme zur Auflage hätten, Geschichte detailgetreu abzubilden, ihnen andererseits aber der Schutz von Persönlichkeitsrechten in dieser Abbildung engste Grenzen setzte – wie sollte da noch filmgerechtes Erzählen möglich sein?

„Wenn die einstweilige Verfügung Bestand hat, bedeutet das einen tiefen Eingriff in die vom Grundgesetz garantierte Kunstfreiheit“, sagt Regisseur Winkelmann vor der heutigen Berufungsverhandlung. Dennoch ist er sich sicher: „Der Film muss gesendet werden und er wird gesendet werden.“ Grund für seine Zuversicht ist, dass das Hanseatische Oberlandesgericht, vor dem nun verhandelt wird, auf der Ansicht des gesamten Films bestanden hat – und dies zur Entscheidungsgrundlage machen will. Auch Mirek Nitsch, Anwalt der Produktionsfirma Zeitsprung, ist optimistisch: „Es gibt einen Hinweisbeschluss des Oberlandesgerichts, der nahe legt, dass der Film und nicht das Drehbuch Grundlage der Entscheidung sein wird. Von daher machen wir uns berechtigte Hoffnung, dass das Verfahren in unserem Sinne ausgeht.“ Aus anderen Kreisen ist zu hören, dass etwa Mitkläger Schulte-Hillen nicht weiter eine Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte geltend machen wolle. Sollten sich Zeitsprung und der ausführende Sender WDR bei der Berufung durchsetzen, könnte laut Winkelmann „Eine einzige Tablette“ im Spätsommer oder Herbst in der ARD laufen.

Aber auch wenn das Verfahren pro Film ausgehen sollte, ist der Rechtsstreit noch lang nicht vorbei. In der Berufung wird nämlich nur über die Aufhebung der einstweiligen Verfügung und damit des Sendeverbots verhandelt. Das Hauptverfahren, bei dem nicht die Ausstrahlung, sondern der Film an sich im Mittelpunkt steht, soll in den nächsten Monaten eröffnet werden. Grünenthal hat angekündigt, bis zum Bundesverfassungsgericht zu gehen, um den Film in der jetzigen Fassung zu verhindern.