Sonnige Aussichten

Das ist Rattenberg: Rattenberg liegt in Österreich. Mit 0,1 Quadratkilometern ist die Stadt flächenmäßig die kleinste Gemeinde Tirols, mit 467 Einwohnern eine der kleinsten Städte Österreichs. Der Ort am Inn liegt so unglücklich am Schlossberg, dass er jeden Winter komplett im Schatten liegt. Dieser Tage könnten nach langen dunklen Monaten die ersten Sonnenstrahlen die Dächer Rattenbergs streifen. Nun ist vorgesehen, über zwei Spiegel Tageslicht ins Tal zu lenken. Wird das Millionenprojekt tatsächlich realisiert, könnten Spiegel mit 400 Quadratmeter Fläche im nächsten Winter die Sonne ins Tal bringen.

Das ist das Vorbild: Auch im oberitalienischen Viganella herrschte lange Jahre winterliche Lichtarmut. Dort bringt nun seit dreieinhalb Monaten ein 40-Quadratmeter-Spiegel Licht. Geweiht vom örtlichen Priester, erhellt er die Piazza des 200-Einwohner-Dorfes. Im Vergleich zu den Rattenberger Plänen ist das Projekt aber preiswert: 10.000 Euro. Das liegt an der besseren Lage Viganellas – die Sonne wird direkt von einem Primärspiegel in den Ort geleitet, ohne den Umweg über eine zweite Spiegelwand wie in Rattenberg. ML

AUS RATTENBERG MARCO LAUER

Mehr Schatten als Licht hat dieser Ort in Tirol. Und dann der Name: Rattenberg. 467 Einwohner, gotische Architektur, denkmalgeschützt und eingeklemmt zwischen Inn und Schlossberg, der sich düster auftürmt. Häuser, grün, blau, gelb gestrichen. Dicht gedrängt, als wollten sie ihren Bewohnern Wärme spenden gegen das, was alljährlich über sie kommt.

Von November an nämlich ist Rattenberg nicht nur die kleinste, sondern wohl auch die dunkelste Stadt Tirols. Die Sonne verschwindet aus dem Blickfeld der Bürger, taucht nicht mehr auf hinterm Schlossberg, bleibt stecken auf der ortsabgewandten Seite, ist zu schwach, den Gipfel zu überwinden – wie ein Drachen an zu kurzer Schnur.

Dann bleibt es düster in den engen Gassen von Rattenberg, und der Blick hinüber zum anderen Ufer des Inn, zur Nachbargemeinde Kramsach, erfüllt die Bewohner mit Unmut. Erinnert er doch daran, dass sie in Rattenberg auf der Schattenseite leben, jeden Winter, bis weit hinein in den März. Dieser Tage, da sich die ersten Mitteleuropäer einen Frühlingssonnenbrand einfangen, dürfte die Sonne endlich wieder hinterm Schlossberg auftauchen. Zaghaft tropft dann Sonnenlicht in den Ort, bringt hier einen Pflasterstein zum Leuchten, hellt da die Stimmung einer verschatteten Seele auf. Doch jeder weiß: Die nächste Winterfinsternis kommt bestimmt.

Mehr Freude – theoretisch

Damit soll bald Schluss sein. Man will der Natur ein Schnippchen schlagen, sich nicht mehr übergehen lassen von der Sonne, sich seinen Teil holen vom Licht, das Körper wärmt und Seele. 800 Jahre reichen, dachte man sich in Rattenberg. Die Stadtoberen hatten 2004 eine Umfrage in Auftrag gegeben, man wollte sich Anregungen holen von den Bürgern, wie die Zukunft aussehen könnte in der kleinen Stadt mit einer großen Glasbläsertradition. Und man wollte der Stadtflucht begegnen – binnen weniger Jahre hatten zehn Prozent der Rattenberger ihren Ort verlassen.

Bürgermeister Franz Wurzenrainer sitzt in seinem dunkel getäfelten Amtszimmer, unter ihm ein knarzender Holzstuhl, über ihm Jesus am Kreuz und vor sich die künftige Wintersonne. Nur fiktiv noch im Moment. In seinem Ordner steht alles drin, die ganze Entstehungsgeschichte des ambitionierten Projekts. „Das Ergebnis der Umfrage damals überraschte uns ein wenig“, erzählt Bürgermeister Franz Wurzenrainer gerade und wischt sich mit der Hand über den Hinterkopf. „Jeder Zweite hatte angegeben, dass er im Winter unter der Dunkelheit leide.“ Überrascht war er vielleicht auch deshalb, weil sein Büro das einzige im Ort ist, das auch im Winter Sonne abbekommt. Es liegt in einem Erker über dem Inn, äußerste Rattenberger Randlage.

Da ein Bürgermeister aber zuletzt das eigene und zuerst das Wohl seiner Gemeinde im Blick haben muss, überlegte er, wie er an mehr Licht, an mehr Sonne, käme. Ganzjährig und für alle. Man empfahl ihm das Innsbrucker Lichtlabor Bartenbach, weltweites Renommee, die Moschee von Medina und den Zürcher Hauptbahnhof in den Referenzlisten. Wurzenrainer fragte also an, und man wurde sich einig: Rattenberg könnte sich die Sonne ins Tal holen. Aus Kramsach. Über Bande. Mit Hilfe gewaltiger Spiegel, Heliostaten genannt. Sehr effektiv sollen die sein und: sehr teuer. Dreißig davon könnten schon ab nächsten November auf einem offenen Feld zwischen dem Inn und der Autobahn Richtung Innsbruck aufgestellt werden. Sie würden die Sonnenstrahlen dann hinüber nach Rattenberg reflektieren. Im Prinzip wäre das schon alles. Ist es aber nicht. Denn dann wäre die Sonne zu hoch „eingestellt“ und würde über die Dächer der Rattenberger einfach hinwegscheinen.

Deswegen plant man anders: auf den Ausläufern des Schlossberges, dem kleinen Plateau oberhalb Rattenbergs, wo im Sommer die Schlossfestspiele gegeben werden – letzte Saison Shakespeares „Viel Lärm um nichts“ –, wird eine zweite Spiegelwand errichtet. Die bekommt die Strahlen von Kramsach geliefert und wirft sie von dort entlang der steilen Felsen hinunter in die Gassen und auf die Häuserwände. Glänzende Aussichten also. Mehr Sonnenlicht, mehr Touristen wegen der neuen Attraktion, weniger Stadtflucht, weniger Depressionen und mehr Lebensfreude, endlich auch im Winter. Theoretisch.

Oben auf dem Schlossberg, von wo die Sonne kommen soll, steht Heinrich Unterrader. Er lässt sich nicht blenden. 81 Jahre alt ist er, streitbar, Rattenberger Urgestein. „Ein Riesenquatsch ist das mit den Spiegeln. A Schnapsidee“, sagt er mit tirolerischem Zungenschlag. „Ich wohne seit fünfzig Jahren in Rattenberg. Schaun S’ mich an. Seh ich vielleicht depressiv aus?“ Erst kürzlich hat er seine Wut über das Spiegelprojekt niedergeschrieben. Von Schwachsinn ist darin die Rede, von Geldverschwendung auf der einen Seite (Gemeinde Rattenberg) und Geldgier auf der anderen (Lichtlabor Bartenbach).

Sonne maßgeschneidert

Beim Namen „Unterrader“ winkt Bürgermeister Wurzenrainer nur ab, begleitet von einem „Naa, der!“ – in der Region kein Ausdruck der Hochschätzung. „Der“ aber stellt in seiner Streitschrift eine Frage, die auch der Bürgermeister nicht ganz von der Hand weisen kann. „Wo soll denn die Sonne herkommen? Mehr als ein Drittel der Wintertage sind ja eh grau.“ Tatsächlich ließe sich die Sonne ja nur spiegeln, nicht aber schaffen – auch die beste Technik stößt da an ihre Grenzen.

Unterrader hat sich warmgeredet: „Der Wurzenrainer will doch nur mehr Touristen hierherlocken. Die Lebensqualität is dem doch völlig egal. Aber wenn wirklich die Sonne scheint, dann gehen die Leute in die Berge und nicht in unser Loch wegen ein paar Streifen Sonne. Da haben sie doch da“ – er reckt das Kinn zu den Dreitausendern am gegenüberliegenden Ende des Tals – „so viel Sonne, wie s’ nur wollen.“

Viele im Ort haben Unterraders Pamphlet unterschrieben. Weil sie es größenwahnsinnig finden, drei oder gar vier Millionen Euro in diese Spiegelei zu stecken. Bei einem Stadtetat von anderthalb Millionen.

„Uns ist natürlich auch bewusst, dass wir das nicht allein finanzieren können“, sagt dazu Josef Wurzer. Der Architekt ist seit drei Jahren von der Stadt damit betraut, Sponsoren zu finden für das ehrgeizige Projekt. Aus Gründen der Glaubwürdigkeit ist er dafür extra aus Lienz in Osttirol hierhergezogen. Lienz, muss man wissen, ist die sonnenreichste Stadt Österreichs. Noch hat die Planung erst einige tausend Euro gekostet. Wenn aber aus den Plänen Wirklichkeit werden soll, „brauchen wir große Sponsoren aus der Wirtschaft“, sagt Wurzer. Denn von einer anderen Idee der Geldbeschaffung sind Wurzer und Wurzenrainer schnell wieder abgerückt. Da die Spiegel sowohl vertikal als auch horizontal zu bewegen wären, hatten sie erwogen, die Sonne zu vermieten. Jeder hätte gegen Geld die Sonnenstrahlen exakt auf sein Haus gerichtet bekommen. Diese Idee haben sie dann aber doch schnell beerdigt. „Was ist mit denen, die sich die Sonne nicht leisten können?“, sorgt sich Wurzenrainer um den ohnehin gestörten Frieden in seiner Gemeinde. „Das kann man nicht machen.“

„30 Quadratmeter finden statt“

Fünfzig Kilometer entfernt steht im Innsbrucker Lichtlabor Bartenbach das Städtchen Rattenberg auf dem Boden, im Maßstab 1 zu 1.000. An Computern sitzen, blass von zu wenig Tageslicht, Entwickler. Sie feilen daran, wie man die Sonne in Rattenberg optimal in Szene setzen kann. Den Klagen über mit Sinnlosigkeit gepaarte Profitgier begegnen sie mit dem Hinweis auf wissenschaftlichen Ehrgeiz. Peter Dokulil, Projektleiter Rattenberg, sieht für diese Technik ein riesiges Potenzial, weltweit. „Es gibt unglaublich viele städtische Strukturen auf der Erde, die stark verbaut sind. Da bleiben ganze Straßenzüge von natürlichem Licht abgeschnitten. Gerade in großen Metropolen.“

Für das kleine Rattenberg aber, warnt Dokulil, sollten keine Wunder erwartet werden. Nicht sonnenüberflutet würde sich der Ort plötzlich präsentieren, nur Teile sollen von Sonnenflecken illuminiert werden. „Alle 30 bis 40 Meter würden 30 Quadratmeter Sonne stattfinden“, sagt Dokulil nüchtern.

Lohnt dafür der ganze Aufwand? Der Bürgermeister sagt: „Die Leute hier sind im Winter froh um jedes kleine bisschen Sonne.“ Und was wäre mit der brutalen Alternative? Einfach den Berg an der Spitze kappen, damit es die Sonne über den Gipfel schafft? Könnte man damit nicht allen gerecht werden – denen, die Sonne wollen, und jenen, die Geld sparen möchten? „Daran haben wir auch schon gedacht“, sagt Wurzenrainer. „Aber wohin dann mit dem ganzen Geröll? Bei den Deponiekosten … Da sparen sie am Ende nichts!“