Zu Hause wurde Amazigh gesprochen

GESCHICHTE EINER EMANZIPATION Najat El Hachmi zog als Kind aus Marokko in die Nähe von Barcelona. Heute ist die 33-Jährige eine anerkannte Autorin. Auf Deutsch ist gerade ihr Roman „Der letzte Patriarch“ erschienen

„Die Leute lesen die Dinge viel zu buchstäblich. Das ist natürlich für mich ein Problem“

NAJAT EL HACHMI

VON KATHARINA GRANZIN

Nein, lächelt sie, als ich sie darauf anspreche, sie sei 2007 nicht auf der Frankfurter Buchmesse gewesen. Damals war die spanische Provinz Katalonien Länderschwerpunkt der Buchmesse. Doch Najat El Hachmi gehörte nicht zu den AutorInnen, die dort auftraten, auch wenn das alle dachten. Sie bekam 2008, ein Jahr später, überraschend den wichtigsten Literaturpreis Kataloniens, den Premi Ramon Llull.

2007 saß die junge Autorin noch an ihrem ersten Roman, „Der letzte Patriarch“, der ihr besagten Preis einbrachte und der nun auf Deutsch erschienen ist. Drei Jahre zuvor, da war Najat El Hachmi gerade mal fünfundzwanzig, hatte sie bereits mit einem anderen Buch auf sich aufmerksam gemacht. Mit „Jo també sóc catalana“ („Ich bin auch Katalanin“), das ihre vielschichtige kulturelle Identität umkreist und in Katalonien breit diskutiert wurde, wollte sie, wie sie betont, kein politisches Statement verfassen. Sie war einer persönlichen Standortbestimmung auf der Spur. „Um meinem Sohn etwas weitergeben zu können, musste ich wissen, wer ich war.“

Ein politisches Zeichen

Im Alter von acht Jahren war Najat El Hachmi mit Eltern und Geschwistern von Marokko nach Katalonien gekommen. Die Familie gehört zur nationalen Minderheit der Berber. Beziehungsweise sei „Berber“ nur die Fremdbezeichnung für Amazigh, so El Hachmi. Zu Hause wurde ausschließlich Amazigh gesprochen, daher kann El Hachmi auch kaum Arabisch. Mit ihrem Umzug und im Lauf der Schulzeit wurde ihre Hauptsprache das Katalanische. In dieser Sprache hat sie auch irgendwann begonnen, „Bücher zu fressen“. Und in dieser Sprache schreibt sie und spricht sie auch mit ihrem Sohn. Mit ihren Geschwistern dagegen kommuniziert sie auf Spanisch. „Das war in unserer Kindheit die Sprache auf den Spielplätzen. In der Schule lernten wir Katalanisch, draußen sprachen wir aber Spanisch, weil wir mit Kindern spielten, die aus allen Teilen Spaniens kamen.“ Mit ihrer Mutter, die, anders als der Vater, nach wie vor in Katalonien lebt, spricht Najat El Hachmi Amazigh. „Bei Familientreffen gibt das ein furchtbares Durcheinander“, sagt sie lachend. „Niemand versteht irgendetwas.“

Dass sie mit ihrem ersten Roman gleich einen so wichtigen Literaturpreis abräumen konnte, ist sicherlich nicht zuletzt auch ein politisches Zeichen. „Der letzte Patriarch“ erzählt, unter anderem, die Geschichte einer großen Emanzipation, der Befreiung einer jungen Frau vom Joch bedrückender Familienverhältnisse. Der erste Teil des Romans gibt die Lebensgeschichte des Vaters der Ich-Erzählerin wieder, jenes „letzten Patriarchen“, der jedoch kein Patriarch im Sinne eines sorgenden, respektablen Ernährers ist, sondern ein egozentrischer, cholerischer, zu Gewaltausbrüchen neigender Despot.

„Gewalt in der Familie ist natürlich ein sehr ernstes Thema“, sagt Najat El Hachmi. Sie habe überhaupt nur in dieser fiktiven Form darüber schreiben können. Damit meint sie den obenhin ironischen, mitunter gar humoristischen Erzählton, den sie anschlägt und der die Lektüre zu einem leicht zugänglichen, vergnüglichen Leseerlebnis macht, obwohl das Geschilderte, bei Licht betrachtet, oft genug schockierend ist. Ein prügelnder Vater, eine hilflose Mutter, eine Ich-Erzählerin, die bereits als Kind viel zu viel Verantwortung für die jüngeren Geschwister übernehmen muss.

Sexuelle Befreiung

Der erste Teil des Romans endet damit, dass der treulose Ehemann und Vater, der bereits seit Jahren in Katalonien lebt, seine Familie endlich aus Marokko nachholt. Der zweite Teil schildert die Emanzipationsgeschichte der ältesten Tochter.

Etwaigen Fragen nach autobiografischen Bezügen ihres Romans kommt Najat El Hachmi im Gespräch selbst zuvor. Jedes Schreiben sei ja im Grunde autobiografisch, erklärt sie, natürlich seien Teile ihres Lebens eingeflossen in den Roman, ebenso aber vieles, was sie von anderen gehört und erfahren habe. „Es steckt mehr als mein eigenes Leben in dem Buch. Es zu schreiben war ein sehr kreativer Prozess.“

Allerdings habe sie tatsächlich das Wörterbuch der katalanischen Sprache gelesen. Nicht von vorn nach hinten natürlich, aber doch recht viel davon. Das katalanische Wörterbuch nimmt im Roman eine zentrale Stellung ein. Zu seiner Lektüre nimmt die Erzählerin immer dann Zuflucht, wenn die Gewaltexzesse des Vaters die Familie wieder einmal in ihren Grundfesten erschüttert haben. So kommt der katalanischen Sprache tatsächlich die sehr symbolisch aufgeladene Funktion zu, das Mädchen aus diesem beklemmenden familiären Kosmos zu erretten, in dem der Vater den unbedingten Alleinherrscher spielt.

Die Emanzipation der Ich-Erzählerin (sie bleibt bis zum Schluss namenlos) geht somit auch einher mit einer kulturellen Neubestimmung, gepaart mit sexueller Befreiung. Ob denn das Buch in der marokkanisch-katalanischen Community vielleicht auch Anstoß erregt habe, will ich wissen. Oh nein, die Reaktionen seien „gar nicht so schlimm“ gewesen, wiegelt El Hachmi ab.

Im Gegenteil, viele Leute seien sogar sehr stolz darauf, dass eine mittlerweile prominente Autorin aus ihren Reihen komme. Was ihre Familie betreffe, so sei allerdings einer ihrer Brüder, dem das Buch anfänglich sogar gefallen habe, sehr ärgerlich auf sie, da er immer wieder von Fremden, die den Roman gelesen hätten, auf seinen Vater angesprochen werde.

Denn natürlich würden die Personen im Roman oft gleichgesetzt mit der realen Familie der Autorin. „Die Leute lesen die Dinge viel zu buchstäblich. Das ist natürlich für mich ein Problem.“ In der Familie werde über ihre Schriftstellerei daher möglichst wenig gesprochen. Ihre Mutter, die nicht lesen könne, verstehe sowieso das meiste nicht, was ihre Tochter tue. „Wie zum Beispiel nach Deutschland zu reisen und den Leuten dort über meine Bücher zu erzählen. Aber weil sie meine Mutter ist, ist sie natürlich stolz auf mich!“

Wenn man Najat El Hachmi so erlebt, selbstbewusst, eloquent, offensichtlich mit sich und ihrem Leben im Reinen, kann man sich kaum vorstellen, welche Widerstände sie möglicherweise hat überwinden müssen, um dort hinzukommen, wo sie heute ist.

Wahrscheinlich wäre es, was die kulturelle Identität betrifft, einfacher, als Immigrantin in Spanien zu leben, räumt sie ein und meint damit den nichtkatalanischen Teil des spanischen Staates. „Die Nationalität steht im Pass, und fertig. In Spanien muss man nicht so viel darüber diskutieren, was es bedeutet, spanisch zu sein.“

In Katalonien dagegen werde permanent über die katalanische Identität diskutiert. „Manchmal ist es vielleicht auch etwas zu viel. Aber ich finde das sehr spannend.“ Nicht zuletzt sie selbst hat mit ihren Büchern diesem Diskurs Nahrung gegeben. Denn Einwanderung und die Frage, wer alles „auch katalanisch“ ist, ist ein Thema, zu dem die Katalanen sich verhalten müssen. In den letzten zehn Jahren, erzählt Najat El Hachmi, sei eine Million Menschen nach Katalonien eingewandert. „Und das bei einer Gesamtbevölkerung von sieben Millionen!“

Sie selbst hat keine Probleme mit ihrer multiplen Identität, fühlt sich als Katalanin, spricht jedoch auch in der ersten Person Plural, wenn von den Amazigh die Rede ist.

Und lacht über sich selbst, als sie sich dabei ertappt, dass sie vor diesem „Wir“ doch etwas gezögert hat.

Najat El Hachmi: „Der letzte Patriarch“. Roman aus dem Katalanischen von Isabel Müller. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011, 346 Seiten, 22,90 Euro