Multi-Kulti im Seniorenheim

„So ein Altenheim ist ja eine Art Mikrokosmos der Gesellschaft“ „Es ist doch auch egal, ob wir Deutsche oder Türken sind – wir sind alt“

AUS DUISBURG JOHANNA RÜSCHOFF

Ralf Krause nimmt jeden auf. – Jedenfalls scheitert eine Aufnahme nie an kulturellen Unterschieden. Er würde auch jederzeit einen Japaner in seinem Heim aufnehmen, obwohl niemand vom Personal Japanisch spricht oder Japanisch kochen kann. „Dann würde ich eben irgendwo einen Monatsvorrat an Sushi kaufen und einfrieren – für den Anfang“, sagt Krause und lacht. Er steht in einem breiten Gang mit großen Fenstern, durch die eine Menge Licht fällt. An den Wänden hängen Bilder von Landschaften und ein paar mit arabischen Schriftzeichen.

Der ehemalige Postbeamte leitet seit 10 Jahren das Duisburger „Haus am Sandberg“, das einzige multikulturelle Seniorenheim in NRW. Er deutet auf die Tür zum Zimmer einer Bewohnerin. Da hängt ein Stück Papier über dem Namensschild der Frau: „Christus mansionem benedicat“, Christus segne dieses Haus. – Direkt daneben hängt ein Kalender mit türkischer Schrift.

Im „Haus am Sandberg“, das vom Roten Kreuz getragen wird, wohnen 97 alte Menschen. Davon sind 15 Türken, zwei kommen aus Tunesien, zwei aus den Niederlanden. Im Durchschnitt sind die Bewohner 83 Jahre alt. Auf die türkischen Bewohner hat sich das Heim eingestellt: ein Drittel des Personals ist bilingual türkisch-deutsch. Und es gibt jeden Mittag eine türkische Mahlzeit zur Auswahl, die von einer türkischen Köchin zubereitet wird.

„Es gibt auch zum Abendessen Schafskäse, Oliven und türkischen Tee. Aber viele Türken essen auch schon mal ein Brot mit Marmelade und trinken Kaffee“, erzählt Krause und wendet seinen Blick einer alten Frau im Rollstuhl zu. Die Frau trägt ein Kopftuch, lacht, ein paar türkische Wortfetzen lassen sich aufschnappen. Krause beugt sich zu ihr und sagt etwas auf Türkisch. Die alte Frau greift nach seinem Arm, beide lachen. Dann schiebt die Pflegerin sie weg – Essenszeit. „Viele unserer Türkinnen tragen Kopftücher. Das hat nicht nur mit Religion zu tun, sondern auch mit Tradition. Wer aber beten will, für den haben wir einen muslimischen Gebetsraum“.

Im Gebetsraum ist die Luft abgestanden. Die Wände sind mit türkischen Kacheln besetzt, die in türkis und blau schimmern. Krause hat sie von einem türkischen Geschäftsmann besorgen lassen. „Schon 1996, beim Bau des Gebäudes, haben wir darauf geachtet, dass dieses Zimmer genau nach Mekka ausgerichtet ist“, berichtet der Familienvater. Auch Frauen können hier beten. „Ab und zu kommt ein Vorbeter zu uns, ein Hodscha. Dann freuen sich einige Bewohner. Aber der Raum wird auch von Besuchern genutzt“.

Mit dem Respekt vor den verschiedenen Kulturen scheint im Duisburger Seniorenheim schlicht der Respekt vor den alten Menschen einherzugehen. Wörter wie „Schwester“ oder „Station“ fallen hier nur ganz selten. Dafür hat Krause gesorgt. „Nur wenn ein Bewohner lange Zeit im Krankenhaus gewesen ist, rutscht ihm schon mal sowas raus“. Die Qualität seiner Einrichtung sieht der Sozialarbeiter vor allem in der Offenheit. „Ich sage immer: Bei uns kann es schon mal passieren, dass jemand in Ihrem Bett liegt. Aber dafür geben wir jedem die Freiheit, die sein Leben human macht“. Und tatsächlich liegt hier keine Traurigkeit in der Luft.

Die vier Etagen des Gebäudes sind alle über eine Öffnung in der Mitte, eine Art Galerie, verbunden. Neun Wohngruppen mit eigener Küche sind auf die Etagen verteilt, fast wie in einer Studenten-Wohngemeinschaft. Rund um das Zentrum gibt es einen Bereich zum Essen. Krause steht am Geländer der zweiten Etage, sieht nach oben und grüßt einen Bewohner auf der dritten Etage. Dann erklärt er: „Es ist trotzdem nicht alles heile Welt hier. So ein Altenheim ist ja eine Art Mikrokosmos der Gesellschaft.“

Natürlich gibt es auch Probleme. Das fängt damit an, dass viele der Bewohner gar nicht in der Lage sind, all die Angebote der Einrichtung zu nutzen. 65 Prozent der Menschen, die hier leben, sind demenzkrank. Da spielen die unterschiedlichen Kulturen kaum eine Rolle. „Aber es ist auch schon vorgekommen, dass jemand gesagt hat: Du Scheiß-Türke. Oder eine Türkin war sauer, weil sie ihren Speiseplan nicht bekam, und beschimpfte das Personal als Nazis“, erzählt der Heimleiter. „Viele der deutschen Männer sind allerdings Bergleute gewesen und an türkische und polnische Kollegen gewöhnt“.

Sozialarbeiterin Bengi Azcan ist kritischer: Sie glaubt, dass genau diese Generation sehr wenig Kontakt mit Ausländern hatte. „Da sind Kulturen buchstäblich aufeinander geprallt. Und die leben heute bei uns zusammen – Menschen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben“. Tatsächlich ist es die erste Generation von Einwanderern, die mittlerweile ins pflegebedürftige Alter gekommen ist. „Das waren Gastarbeiter. Sie wurden als Gäste gesehen und haben sich auch als solche gefühlt“, sagt Azcan. Nur aus dem ursprünglichen Plan, in die Heimat zurückzukehren, ist bei den meisten nichts geworden. Eins haben aber alle türkischen Bewohner veranlasst: Sie wollen in der Türkei begraben werden.

Auch Azcans Eltern kamen vor Jahrzehnten aus der Türkei nach Deutschland. Sie selbst wurde jedoch in Deutschland geboren und studierte an einer deutschen Universität. Seit zehn Jahren arbeitet sie im „Haus am Sandberg“ als Sozialarbeiterin – mit Schwerpunkt Migrantenarbeit. Sie organisiert zum Beispiel jeden Dienstag ein türkisches Frühstück. Ihr sind beide Kulturkreise vertraut: „Ich kenne beide Kulturen und lebe praktisch aus, was ich in mir trage. Ich mag meine Arbeit. Auch, weil die Menschen hier so gelassen werden, wie sie sind“.

Das führt aber auch dazu, dass das Miteinander im „Haus am Sandberg“ oft mehr ein Nebeneinander ist: von Türken und Deutschen, von Demenzkranken und gesünderen Bewohnern. Johann De Goey ist mit seinen 87 Jahren einer der fit wirkenden Bewohner. Er schiebt beim Laufen ein kleines Wägelchen vor sich her und beginnt zu strahlen, wenn er über sein Zimmer in dem Duisburger Heim spricht. „Das ist herrlich. Ich habe eine Veranda, es ist alles grün rundherum und ich kann jederzeit an die frische Luft gehen“, schwärmt der alte Mann.

Er wohnt in einem 24 Quadratmeter großen Zimmer mit Fenstern bis zum Boden und einer kleinen Terrasse. An der Wand hängt ein Bilderrahmen mit vergilbten Fotos. Eine junge Frau ist zu sehen und ein junger Mann in Uniform. De Goey geht langsam und hört schlecht, aber seine Augen sind wach. Seit zwei Jahren wohnt er schon hier. „Die erste Zeit war schwer. Aber jetzt sind wir hier eine richtige Clique“.

Beim Mittagessen nimmt er die Hand der alten Frau, die neben ihm sitzt. „Für mich war es ein Glück, dass die Lene gekommen ist. Wir sind Freunde geworden“, sagt De Goey und lächelt. Helene Steglich ist 83 Jahre alt und teilt sich ein Zimmer mit einer anderen Bewohnerin. „Das ist nicht immer einfach“, sagt sie und ihre Augen wirken leer. Das ändert sich schlagartig, als ihr Freund sagt: „Heute Mittag gehen wir singen. Und vielleicht spiele ich Mundharmonika“. Mit den türkischen Bewohnern hat die „Clique der Fitten“, wie Azcan sie nennt, jedoch nichts zu tun. „Wir haben eigentlich keinen Kontakt“, sagt der 87-jährige. „Aber wenn die ein Fest haben, gehen wir natürlich hin. Wir machen alles mit“. Genau darauf setzt das Konzept des Hauses mit seinen Angeboten. Sozialarbeiterin Azcan berichtet, dass ein deutscher Mann beim letzten türkischen Frühstück etwas probiert hat, was er „unglaublich lecker“ fand: „Er hat gesagt: Ab heute komme ich jeden Dienstag“.

Vor allem eines verbinde die Bewohner, glaubt die Deutsch-Türkin: das Alter. Einmal, erzählt sie, habe eine deutsche Bewohnerin herausgefunden, dass Azcan selbst auch Türkin ist. Die alte Frau hatte ihre Betreuerin immer für eine Deutsche gehalten. „Sie war erst ganz baff. Später sagte sie dann zu einer türkischen Bewohnerin: Es ist ja auch egal, was wir sind. Du und ich – wir sind alt“.