Der lange Weg zur Innentoilette

Die Berufung auf den Klassizismus in der Architektur ist en vogue. Dabei ist durchaus interpretierbar, wofür er stehen kann, wie die Ausstellung „Neue Baukunst. Berlin um 1800“ in der Alten Nationalgalerie in Berlin zeigt: Nämlich auch für Materialgerechtigkeit, Funktionalität und Schlichtheit

VON RONALD BERG

Im Jahr 1908 erscheint ein Buch mit dem Titel „Um 1800“. Der Autor Paul Mebes, ein Architekt von Land- und Reformwohnhäusern, wertet darin das gesamte 19. Jahrhundert als eine Zeit des Verfalls. Es gelte bei der Zeit um 1800 anzuknüpfen, um die stilistischen Auswüchse der jüngsten Vergangenheit zu überwinden. Die Zeit um 1800, in der zum Beispiel Goethe sein Haus in äußerster Schlichte und Zweckmäßigkeit einrichtete, schien das rechte Vorbild zu sein für die Frage, wie der moderne Mensch wohnen solle.

Nun erinnert eine Ausstellung von Architekturzeichnungen aus dem Bestand der Kunstbibliothek in der Alten Nationalgalerie Berlin an die Stadt um 1800 – und wieder scheint die Rückbesinnung auf den frühen Klassizismus fällig zu sein. Für Peter-Klaus Schuster, Generaldirektor der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, hat die „zur Form gewordene Idee“ der Architektur um 1800 auch heute wieder Vorbildfunktion, verbinde sie sich doch mit dem „demokratischen Ethos von Muße, Wissen und Bildung zum Wohle der Allgemeinheit“.

Nur, wie sollte diese Besinnung konkret aussehen? Das ist eine interessante Frage im Streit etwa zwischen David Chipperfield und den Stadtbildnostalgikern, die seinen Eingangsbau für die Museumsinsel anfeinden, weil er kein klassizistisches Kostüm im Stile Schinkels trägt. Wie dieses Entree zur alle Museen unterirdisch verbindenden „archäologischen Promenade“ letztendlich aussehen wird, ist allerdings noch gar nicht ausgemacht. Chipperfields ursprünglicher Entwurf aus Glas und Stahl wird derzeit überarbeitet.

Nur wenige Meter weiter, am so genannten Humboldtforum, lässt die Stiftung es sich dagegen gefallen, sich im Geist von 1700 einmauern zu lassen. Verträgt sich denn eine barocke, auf feudale Repräsentation hin ausgelegte Schlossfassade aus der Zeit um 1700, wie sie für die außereuropäischen Sammlungen der Preußenstiftung auf dem Schlossplatz geplant ist, mit dem Gedanken der Materialgerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Schlichtheit, wie sie für die Zeit um 1800 kennzeichnend war?

Im heutigen Stadtbild Berlins ist aus der Zeit um 1800 jedenfalls kaum etwas überkommen. Das Wrangelschlösschen in Steglitz, ein Wohnhaus in der Neuen Grünstraße, von Carl Gotthard Langhans das anatomische Theater auf dem Gelände der Charité und das 1791 vollendete Brandenburger Tor, viel mehr aus der Epoche gibt es nicht. Schon im 19. Jahrhundert kostete das immerforte Werden der Stadt viele Opfer. Langhans’ Theater auf dem Gendarmenmarkt, die Börse im Lustgarten oder die Königliche Münze von Heinrich Gentz, an sie können nur noch Fotos und Zeichnung erinnern.

Auf Fotos hat man in der jetzigen Ausstellung allerdings komplett verzichtet. In den Zeichnungen begegnen einem dafür auch unrealisierte Entwürfe, etwa Gillys nicht ausgeführter Entwurf zur Börse. Außerdem zeigen die künstlerisch gestalteten Blätter die Ideen reiner. Statt der Fensterkreuze sind oft nur schwarze Flächen in der Fassade zu sehen, und die Bauten stehen isoliert in menschenleerer Umgebung, so, als wären sie Zeugnisse eines ideellen, zeitlosen Griechenlands. Auf dieses Land der Seele rekurrierten die Preußischen Baummeister – im Gegensatz etwa zur französischen Revolutionsarchitektur, die auf römische, und damit imperiale Vorbilder zurückgriff.

Preußen war um 1800 trotz allen Militarismus zu einem Ort des Geistes geworden, wovon nicht zuletzt die Gründung der Bauakademie 1799 und der Universität 1810 zeugen. Das Reformerische, das nach der Niederlage gegen Napoleon 1806 auch politisch langsam Gestalt annehmen konnte, zeigte sich zuvor schon in der Architektur, etwa in der Planung von Typenwohnhäusern. Schlicht aber zweckmäßig und gesund sollten sie sein, was insbesondere bei den niederen Ständen dringend notwendig war. Der Einbau von Innentoiletten und die Abschaffung fensterloser Alkoven und Küchen waren vorgesehen. Die spätere Mietskasernenstadt hat diese Innovationen bis ins 20. Jahrhundert hinein ignoriert.

Die Kunstbibliothek zeigt übrigens in einigen begleitenden Modezeichnungen wie der damalige Zeitgeist, der die Häuser weitgehend vom Stuck entkleidete, auch den Frauen den (vorübergehenden) Abschied vom Korsett bescherte. Die antikisch, unter der Brust gegürteten Kleider sollten erst wieder um 1900 als Reformkleid in Mode kommen.

Auch was der damalige Baurat Gilly sich um 1800 für ein Speichergebäude ausgedacht hat, ist erst im 20. Jahrhundert wieder als Inbegriff modernen Bauens ernst genommen worden: Die Querschnittszeichnung ähnelt tatsächlich einem modernen Skelettbau – funktionale, rasterartige Gliederung, Materialästhetik und Verzicht auf zusätzliches Ornament.

Die Antwort auf die mit der Ausstellung angeschnittene Frage, ob auch das 21. Jahrhundert bei Gilly oder Langhans noch was lernen könnte, bleibt natürlich jedem selbst überlassen. Will man sich aber auf die hier so verführerisch vorgebrachten Ideen und Haltungen von 1800 berufen, sollte man bedenken, dass es eine Zeit des reformerischen Aufbruchs, der technischen Innovation und der schönen Bescheidenheit war. Insofern könnte sich der Geist von 1800 heute auch in Stahl, Glas oder Beton behaust fühlen, jedenfalls eher als im nachgeahmten Gepränge längst vergangener Epochen.

Alte Nationalgalerie Berlin, bis 28. Mai