Die Seelen renovieren

THEATER Am Wochenende ging an den Münchner Kammerspielen das Festival „Radikal jung“ zu Ende, das erstmals Aufführungen aus Serbien, England und Belgien eingeladen hatte

Hier begegnet garantiert jeder seinem persönlichen 90er-Jahre-Schrecken wieder

VON SABINE LEUCHT

Schnell, sehr schnell beginnt Milo Lolic’ Version von Falk Richters Stück „Gott ist ein DJ“: Ein Mann zwinkert ins Publikum wie ein alter Bekannter, der erst mal die neue Lage abchecken muss. Dann zündet er sich eine Zigarette an und liest: ein Roadmovie im amerikanischen Niemandsland, Sex mit einer Minderjährigen, dann ein Mord. Das Wort „Horror“ kommt vor. Er sagt es mehrmals. Mit langen Pausen dazwischen. Schaut dabei fest die Zuschauer an: „Horror!“. „Bog je di-dzej“ heißt die serbische Fassung von Richters Stück, sie kommt vom Theater „Dusko Radovic“ und war zu Gast auf dem Münchner Festival „Radikal jung“.

Ende der neunziger Jahre in Deutschland entstanden, ist Richters Stück der dereinst grassierenden Schockästhetik verpflichtet und – was den Plot angeht – fast prophetisch: Ein Ex-DJ und eine Ex-TV-Quasselstrippe lassen ihre Wohnung kameraüberwachen und stellen in der Hoffnung auf künstlerische Anerkennung ihr Leben nach, das sie dabei mehr und mehr verfälschen.

„Fake Memory“ ist wohl der Begriff im Stück, in den der 31-jährige Regisseur Milo Lolic seinen Anker geschlagen hat. Als Student an der Belgrader Hochschule für Dramatische Kunst hat er die Bombardierung Serbiens durch die Nato miterlebt und das Ersatzleben in Clubs: mit Musik, Drogen und billigen, selbst gedrehten Gore-Filmen. „Sie“ hat in „Gott ist ein DJ“ auch so einen Film gemacht: Hirn spritzt, es wird realistisch vergewaltigt und gestorben. Und dann sagt „Sie“: „Wir haben in Bosnien gedreht.“

Dass der Abend aus einem Land mit noch frischer Kriegserinnerung kommt, wird aber nicht nur hier deutlich. Lolic’ Lowtech-Inszenierung voller selbst gebastelter Requisiten könnte genauso in einem Luftschutzbunker entstanden sein. Und so plärren in der überengagierten Lebensdarstellung auch immer wieder Alarmsirenen los. Dann hotten die Akteure so reflexhaft und emotionslos wie Tanzautomaten zu trashigem Elektropop ab, der so laut ist wie Kanonendonner. Und so rhythmisch wie ein Maschinengewehr.

Vier traurig blickende Kids springen dazu in Posen und Klamotten, die diesen Reenactments von MTV-Musikclips einen Hauch von sozialistischer Repräsentationsfolklore verleihen. Hier begegnet garantiert jeder seinem persönlichen 90-er-Jahre-Schrecken wieder.

Beim nunmehr siebten Festival für junge Regisseure am Münchner Volkstheater war die Belgrader Produktion eine der beherztesten und sicher die schrecklich-schönste. Und sie war Teil eines Versuchsballons, in dem zum ersten Mal auch Regisseure aus dem nicht-deutschsprachigen Ausland in München einschwebten. Außer Lolic, der beim Festival BiteF in Belgrad vor „Rimini Protokoll“ und Robert Lepage den Großen Preis der Jury gewann, waren der Belgier Fabrice Murgia und die in England aufgewachsene Deutsche Caroline Steinbeis geladen.

In München zeigte Steinbeis ein am Londoner Gate Theatre entstandenes Zweipersonenstück, das wunderbar funktioniert, solange sie allein den Darstellern vertraut. In Tom Holloways „Fatherland“ geht es um die Liebe zwischen Vater und Tochter, die schon mindestens einmal ins Inzestuöse gekippt sein muss, bevor die beiden für einen oberflächlich amüsanten Schlagabtausch ein renovierungsbedürftiges Zimmer betreten. Die Renovierung der verletzten Seelen gelingt indes nicht. Wie wund sie beide sind, machen Jonathan McGuinness und Angela Terence deutlich, wenn sie mit nuancierter Mimik das offen Ausgesprochene kommentieren oder unterlaufen.

Doch dann krachen die Symbole ins Bild. Als die beiden ein einziges Mal den Raum (hallo: das Gefängnis ihrer Gefühle!) verlassen, fällt ein rotes Herz vom Weihnachtsbaum – und am Ende liegen zwei blutende Menschenherzen am Boden. Bäh!

Wie Steinbeis mit ihrer wie auch immer gelungenen Abkehr vom rein Psychologisch-Realistischen genießt auch Murgia in seinem Land eine Sonderstellung. Sein bild-, aktions- und technikaffines Theater kann mit der im wallonischen Teil Belgiens noch immer vorherrschenden Tradition der Comédie-Française kaum in Einklang gebracht werden. Nach München kam Murgias’ am Brüsseler Nationaltheater beheimatete Gruppe „Artara“ mit „Life: Reset“ – einem mit großer formaler Strenge gestalteten Abend, der einer Frau bei ihren täglichen Verrichtungen zuschaut: vielen stillen, leeren Gesten zwischen Bett, Küchentisch und Bad, bis sie am Ende Tabletten schluckt.

Wie hinter der Leinwand abwechselnd die Räume aufleuchten, wie das abgefilmte Bild mit dem live hergestellten korrespondiert, wie viel Mut zur Langsamkeit Murgia zeigt: All das ist bewundernswert. Doch scheint der Regisseur und Autor des Abends dem alleine nicht zu trauen. So bläut einem die Musik immer wieder Gefühle ein, etwa wenn die Frau ihren Laptop aufklappt, um im Spiel „Second Life“ mit einem Hasen zu chatten. Und dass sie am Ende als Meerjungfrau wiederaufersteht, das ist dann eben genau das Quäntchen Deutlichkeit zu viel, das bei Steinbeis die Herzen beigesteuert haben.