Die verschwundene Klasse

Verpachtet an privat: Auf der Kastanienallee hat dieser Wandel eine Schule erwischt. Ein Kunstprojekt begleitete den Umbau – festgehalten in der Chronik „Schulschluss“

Im April 2002 erhält Wolfgang Krause von der Kunsthochschule Berlin-Weißensee einen Lehrauftrag für das kommende Wintersemester. Den Raum für seine Lehrveranstaltungen zum Thema „Kunst im Stadtraum“ findet der Spezialist für Stadtteil- und Straßenprojekte wie schon oft in den letzten dreizehn Jahren direkt vor der Haustür. Die Gustave-Eiffel-Gesamtschule in der Kastanienallee 82 soll zum Jahresende geschlossen werden. Die Jugendlichen kurz vor dem Umzug, das Echo des Schulalltags in dem leeren Gebäude, seine ungewisse Zukunft – Krause sieht darin ausreichend Spielraum für künstlerische Reflexionen.

Die Intervention verläuft langwieriger als vorauszusehen war. Die Schule wird doch nicht geschlossen. Sie soll lediglich von hier verschwinden. Doch das Datum des Umzugs wird wieder und wieder verschoben. Das Vorhaben, das Verschwinden der Schule mit einem ästhetischen Hall zu begleiten, nistet sich indessen ein. Es nährt sich vom Alltag des Aufschubs und der Ungewissheit. Die Symptome sind auffällig: vier öffentliche Kunstaktionen in drei Jahren.

Jetzt hat Wolfgang Krause zusammen mit Peter Müller eine Dokumentation des dreijährigen Prozesses herausgegeben, die heute Abend in der Galerie Prater vorgestellt wird. „Schulschluss“ enthält die Essays namhafter, an den Aktionen beteiligter Künstlern wie Inge Mahn und Arnold Dreyblatt. Die Schulleiterin Christiane Zirbel kommt darin zu Wort, ebenso wie der Rektor der Kunsthochschule, Rainer W. Ernst. Die Studenten sprechen über ihre Arbeiten. Wie Krauses erste Publikation „Kunst-Raum-Straße“ ist auch „Schulschluss“ reich illustriert, mit den Arbeiten etwa von Kai Schiemenz, Josefine Günschel, Friederike Klotz.

Den Kunstobjekten voraus gingen Diskussionen mit Lehrern, eine allmähliche Annäherung an verstockte Schüler, die Auseinandersetzung mit ihren schwindenden Träumen und wachsenden Problemen, die Eroberung des Hausmeisters und seiner Schlüssel, Verhandlungen mit Politikern, Gespräche mit Bürgern. „Schulschluss“ dokumentiert wie ein Tagebuch die Fakten der Intervention mit persönlichen Einsprengseln. Kunst braucht Geduld und Akribie, diplomatisches Geschick und saubere Buchführung.

Lippenherpes nach der ersten Hospitation im Deutschunterricht, eine gestohlene Digitalkamera, die Wiederbelebung der Sozialstation, die Enttäuschung, weil die Schüler sie nicht sofort annehmen, der Kampf um die leer stehende Hausmeisterwohnung und schließlich die Einzugsparty mit den Jugendlichen. Der Kopfsprung ins Getriebe der Schule verfolgt weder politische noch pädagogische Ziele, doch werden die Künstler im Prozess zu Sozialarbeitern, Chronisten, Historikern, Hausmeistern und politischen Aktivisten.

„Schulschluss“ ist mehr als die Chronik eines Kunstprojekts. Es ist ein Buch vom gesellschaftlichen Wandel. Die Gustave-Eiffel-Gesamtschule wurde von der Kastanienallee überholt. Es passte nicht mehr zwischen die sanierten Fassaden und die schrillen Szeneläden. Den Problemkids stand die erste Adresse nicht mehr zu. Sie wurden verdrängt. Dort, wo sie früher breitbeinig auf dem bröckelnden Sims hockten und mit Blick auf den Asphalt an einem Joint saugten, ist jetzt eine freundliche Caféterrasse entstanden. Die Fassade der Schule wurde gestrichen, die Fenster vergrößert, das Linoleum auf Hochglanz poliert.

Eine Spur der Interventionen ist geblieben. Die Installation Arnold Dreyblatts „Die verschwundene Klasse 7d/1961“, eine Rekonstruktion aus Fundstücken und Fantasie, eine mysteriöse Berlinstory aus Zeiten des Kalten Kriegs, unter Mitwirkung von Zeitzeugen erzählt und erschwindelt, ist noch immer in einem Schaukasten im Foyer in der ehemaligen Gustave-Eiffel-Gesamtschule zu besichtigen.

Das große öffentliche Grundstück wurde an eine private Sprachenschule verpachtet. Die Schüler und Gäste, die sich heute am Empfangstresen im Foyer tummeln, sind kaum älter, doch ihre Probleme sind um Welten von denen der einstigen Hauptschüler entfernt.

Bis zuletzt, bis zur Neuverpachtung des Grundstücks engagierte sich die Bürgerinitiative K 82 (für Kastanienallee 82) dafür, dass Gebäude, Hof, Garten und Sportplätze in öffentlicher Hand bleiben. Noch heute setzen sich Anwohner dafür ein, dass wenigstens der große Schulhof, Verbindung zwischen Kastanienallee und Choriner Straße, allen offen steht. Der Schulumzug hätte sich stillschweigend, unter Ausschluss der Öffentlichkeit vollzogen, keine Spur von K 82, wären nicht die Künstler gekommen und hätten den Ort für eine Zeit der Normalität des Wandels entzogen.

KATHRIN SCHRADER

Wolfgang Krause und Peter Müller (Hg.): „Schulschluss“. Mit 66 Künstlerbeiträgen, 204 Seiten, Vice Versa Verlag, Berlin, 18 € Buchvorstellung heute, um 20 Uhr, Galerie im Prater, Berlin