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ANSPANNUNG Nur 20 Kilometer von Mariupol wird darum gekämpft, ob die Stadt ukrainisch bleibt

AUS MARIUPOL ANDREJ NESTERKO

Es gibt diesen einen Satz, den liest man an den unterschiedlichsten Orten der Stadt: „Mariupol gehört zur Ukraine.“ Nur auf den ersten Blick fragt man sich, warum er überall steht. Denn nur 20 Kilometer entfernt werden Kämpfe ausgefochten darum, ob die Stadt weiterhin ukrainisch bleibt.

Die äußerliche Ruhe in Mariupol trügt. Sobald es dunkel wird in der 470.000-Einwohner-Stadt am Asowschen Meer, wenn der Straßenlärm sich legt und selbst die streunenden Hunde von der Bildfläche verschwinden, hört man in der Ferne die Explosionen der Artilleriegeschosse. Am Donnerstag und Freitag fielen 7 Zivilisten den Kämpfen zwischen der ukrainischen Armee und prorussischen Separatisten zum Opfer. 23 wurden verletzt.

In einem Café unweit des Stadtzentrums läuft ein Fernseher, ununterbrochen werden Nachrichten gezeigt. Die Menschen, die ins Café kommen, können sich auch mit hochprozentigem Alkohol nicht entspannen. Sie machen sich Sorgen, nicht nur um ihre eigene Stadt, sondern auch um Donezk und Lugansk. Viele haben dort Freunde und Verwandte.

Weniger Putin-Freunde

Nikolaj, der im metallverarbeitenden Betrieb Iljitsch arbeitet, erzählt, dass die Leute langsam nicht mehr wissen, worüber sie sprechen sollen. „Viele überlegen, was sie machen werden, falls die Stadt von den Russen eingenommen wird“, sagt er. Vor einem Monat sei die Zahl der Russlandfreunde noch sehr hoch gewesen. Jetzt aber würden viele erkennen, mit welchen Mitteln die Russen „Frieden“ bringen wollen, nämlich mit Raketen- und Minenwerfern. „Putin-Freunde gibt es daher immer weniger.“

Mariupol erlebt einen Einwohnerschwund. Das neue Schuljahr hat begonnen, doch viele Mütter bringen ihre Kinder nach Dnepropetrowsk, Kiew oder Saporischschja in Sicherheit. Nikolaj hat seine Frau Anna abends nach Dnepropetrowsk gebracht. Er selbst möchte in Mariupol bleiben, er streitet sich deswegen ständig mit seiner Frau. Er ist davon überzeugt, dass jemand auf das Haus aufpassen muss. Nikolaj ist stolz darauf, dass die meisten seiner männlichen Arbeitskollegen wie er den Betrieb nicht verlassen haben und weiter arbeiten. Das Iljitsch-Werk ist nicht nur der größte Arbeitgeber der Stadt, sondern auch eine Sehenswürdigkeit.

Wenig Hoffnung

Es ist schwierig, Mariupol zu verlassen. Züge gibt es nur wenige, und für die gibt es kaum Tickets. Die Züge fahren jetzt eine Strecke, die doppelt so lang ist wie die alte, da sie gefährliche Gebiete umfahren müssen, um nicht auf Minen zu stoßen oder beschossen zu werden. Auch Busse fahren unregelmäßig, es gibt lange Warteschlangen. Viele Bewohner bitten deshalb ihre Verwandten aus den umliegenden Städten darum, sie mit dem Auto aus Mariupol abzuholen. Aber auch Benzin ist Mangelware, ebenso wie viele Nahrungsmittel und Hygieneartikel.

Aljona und Mischa, ein junges Ehepaar, wollen wie Nikolaj in Mariupol bleiben. Mischa arbeitet im selben Betrieb wie Nikolaj, Aljona ist Hausfrau. Sie findet gerade keine Arbeit und weckt Obst und Gemüse für den Winter ein. „Wo sollen wir schon hinfahren?“, fragt sie. Verwandte in anderen Städten haben sie schließlich nicht. Und hier in der Stadt haben sie ein Haus und einen großen Garten. „Das alles gehört doch uns“, sagt Aljona. Auf die Frage, was sie im Falle einer russischen Invasion tun werden, antworten die beiden nüchtern: „Es kommt, wie es kommt, wie schon auf der Krim. Auch wenn dort jetzt alles schlecht sein soll, die Menschen leben irgendwie.“

Den Politikern glaubt niemand mehr. Der ukrainische Präsident Poroschenko wird genauso kritisiert wie der russische Präsident Putin. Die Gespräche über eine mögliche Waffenruhe – die inzwischen vereinbart wurde – halten viele für eine Lüge. „Den Krieg wird Poroschenko erst aufhalten können, wenn alle Konfliktparteien dasselbe Ziel haben“, sagt Nikolaj. Er befürchtet: Selbst in einer Feuerpause werden die Kampfeinheiten bleiben. „Das ist nur eine Verschnaufpause, nach der noch heftiger weitergekämpft wird.“

Aus dem Russischen Ljuba Naminova