Die Melodie nach dem Wüstenritt

KOMPONISTIN Die Jüdin Ursula Mamlok rettete sich in die Musik. Und nach Amerika. Nun lebt sie wieder in Berlin

Unruhig wird das deutsche Publikum nicht. Aber es hört ihrer Musik auch nicht einfach nur zu

VON NADJA KLINGER

Sie treffen sich regelmäßig, die alten Damen. Sie erzählen einander ihr Leben. Holen weit aus, strapazieren Details. Verben verwenden sie in der Wirklichkeitsform. Denn es bringt nichts, in der Seniorenresidenz am Ende des Lebens im Konjunktiv zu reden.

Eines Tages ist Ursula Mamlok dran. Die mit dem großen, rot geschminkten Lachen. Sie absolviert ihre 88 Jahre. Und zwar so, dass sie den Zuhörerinnen nicht unangenehm werden. „Ich versuche, in meiner Geschichte Humor unterzubringen“, sagt sie. „Ich will nicht mit Menschen zusammen sein, die sich mir gegenüber schuldig fühlen.“

Seit fünf Jahren ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf solche Menschen trifft, stark gestiegen. Denn Ursula Mamlok ist wieder in Berlin. Das Haus in Charlottenburg, wo sie nach ihrer Geburt 1923 wohnte, steht da wie einst. Das Lyzeum, das zu besuchen ihr die Nazis 1938 untersagten, ist immer noch eine Schule. Sie entkam der Stadt gerade noch rechtzeitig. Fortan beherrschte der Konjunktiv ihr Leben: das Irreale. Die Möglichkeiten, die nicht existierten.

66 Jahre war sie „Örsöla“, jetzt ist sie wieder Ursula. Die Musikstücke, die sie komponierte, tragen englische Titel. Jetzt werden sie von deutschen Musikern gespielt. Ihr Flügel klingt im Erdgeschoss der Seniorenresidenz schöner als im Zimmer an der 86. Straße in Manhattan. Am Rollator tritt sie aus dem Haus. Berlin zwingt ihr nicht so ein Tempo auf wie New York. Aber auf ihren dünnen Beinen kommt sie nicht weit. Stolpert. Hin und wieder bringt sie in Berlin die Sprachen durcheinander. „Comeback ist leider nicht das richtige Wort“, korrigiert sie. Das Leben vergeht. Es kennt kein Zurück.

Ursula ist drei, als sie am Klavier den Tönen nachsinnt. Mit kaum vier erfindet sie erste eigene Stücke. Sie lebt in der klassischen Musik, einer besseren Welt als jener, aus der, wie der Vater sagt, die Juden in die Wüste vertrieben werden sollen. Sie komponiert in Moll. Ein Stück heißt „Wüstenritt“. Als sie nicht mehr in die Schule darf, freut sie sich, weil sie am Klavier sein kann. Anfang 1939 flieht die Familie übers Meer nach Ecuador.

Zwar wurden die Filze des Klaviers präpariert, damit tropische Insekten sie nicht verspeisen. Doch eine musikalische Ausbildung ist in der Hafenstadt Guayaquil nicht drin. Sie ist 17, als sie abermals an Bord eines Schiffes geht. Allein. Die New Yorker Mannes School of Music hat ihr ein Stipendium versprochen.

In New York hat sie Lehrer und zwei anonyme Gönner, die im Sekretariat der Schule Geld hinterlegen. Jemand hilft ihr, die Eltern nachzuholen. 1947 heiratet sie Dieter Mamlok. Er ist Hitler mit dem Kindertransport nach Schweden entkommen, nennt sich jetzt Dwight und betreibt ein Geschäft.

Irgendwann werden Ursula Mamloks Werke in der New Yorker Carnegie Hall gespielt. Aber erst spät. Fast vierzig ist sie, als sie ihre erste Aufführung erlebt. Um von tonaler klassischer Musik, die sie in Berlin inspirierte, zur zeitgenössischen Klassik zu finden, musste sie einen großen Umweg nehmen. Sie rettete ihr Leben, reiste Tausende Kilometer, lernte Spanisch, dann Englisch, musste Sehnsucht aushalten und die Post aus Deutschland, in der das Rote Kreuz das Verschwinden jüdischer Angehöriger mitteilte. Mit 33 holte sie ihren Schulabschluss nach, um unterrichten zu können. Sie arbeitete hart am Wandel ihres Kompositionsstils, widmete sich der Zwölftonkomposition, befasste sich mit Schönberg, Bartok, Hindemith und vollzog Anfang der sechziger Jahre mit komplexen, oft gegeneinander gesetzten Rhythmen den musikalischen Bruch. In „Polyphony Nr. 1“, einem Stück, das 1966 entsteht, fabriziert die Klarinette eine lange Melodie, die wie auf einer geraden Linie verläuft, um diese Linie sodann mit kurzen Noten zu unterbrechen.

Wenn zwei Menschen die Kindheitserinnerungen zu schaffen machen, finden sie Gründe dafür, keine weitere Kindheit zu riskieren. „Ich war mit Komponieren beschäftigt, mir fehlte der Sinn, ein Kind zu versorgen“, erklärt Ursula Mamlok. „Ich hatte nie viel Energie.“ Richtig ist wohl: Alle Kraft steckt in der Musik, in die sie sich rettete. Als Dwight Mamlok 2005 an Krebs starb, war sie eine angesehene Künstlerin. Und allein.

Im April 2011 sitzt sie auf der Bühne im Pavillon am Berliner Holocaust-Mahnmal. Sie versinkt fast im Sessel. In ihrer rötlich gefärbten Mädchenfrisur leuchten blonde Strähnen. „Von den Nazis verfemte Komponisten“ heißt die Ausstellung, in der heute ihre Musik gespielt wird. Im Publikum sitzen steinalte Damen. Wenn Ursula Mamlok zwischen den Stücken aus ihrem Leben erzählt, stützen sie sich würdevoll auf Gehstöcke mit kunstvoll geschwungenen Griffen. „Kennen Sie das hier?“, fragt eine in der Pause. Sie zieht eine goldene Kette aus dem Dekolleté. Daran hängen … zwei winzige Thorarollen? Mamlok hat keine Ahnung, aber sie nickt. „Dann wissen Sie, wer ich bin“, sagt die Dame. „Wir waren alle im KZ.“ Die Komponistin behält sie im Blick. „Ich fürchte mich vor Publikum, das meine Musik nicht kennt.“

Unruhig wird das deutsche Publikum nicht. Aber es hört ihrer Musik auch nicht einfach nur zu. Ein Verein, der sich um Werke der von den Nazis verfolgten Komponisten kümmert, hat sich auch Ursula Mamloks angenommen. Sie hat jetzt eine Managerin und einen Verleger. Eine Homepage und ein Werkverzeichnis. Sie ist in Berlin nicht mehr nur Komponistin. Sie soll reden. Sie ist Zeitzeugin.

Mit Motivskizzen und Tonreihen auf Papier sitzt sie im Seniorendomizil und komponiert. Variiert Töne, hat einen Anfang im Ohr, ein Motiv, plagt sich damit, wie es weitergehen soll. Oft haben die Mamloks an Europa gedacht. „Willst du mit Deutschen deines Alters zusammenleben, von denen du nie wissen kannst, wer sie in der Nazizeit waren?“, hat ihr Mann gefragt. Nach der Ankunft in Berlin hob eine Frau, die sie für eine Freundin hielt, Geld von ihrem Konto ab. Anzeigen wollte Ursula Mamlok sie nicht. „Man kann nie wissen, was mir ihre Angehörigen dann auf der Straße antun.“ Einem Journalisten, der sie nach der Heimkehr fragte, antwortete sie: „Ich hab immer gern was Neues.“ Das stimmt. Es blieb ihr ein Leben lang nichts anderes übrig.