Inexistente Einwanderungspolitik

Die deutsche Einwanderungs-gesellschaft ist weiterhin geprägt von einer erstaunlichen Mischung aus Ablehnung, Ignoranz und Realitäts-verleugnung. Das belegen drei neue Studien recht eindrucksvoll

VON MARK TERKESSIDIS

In Sachen Migration ist hierzulande alles klar: Die Migranten, zumal jene türkischer Herkunft, haben Probleme, und zwar seit 30 Jahren die gleichen. Sie sprechen nicht genügend Deutsch, sie leben in so genannten Parallelgesellschaften, und in den Familien werden Frauen unterdrückt. Dass Migranten benachteiligt sind, das bestreitet wohl niemand, doch ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung, der Medieneliten und der politischen Klasse findet: Schuld sind sie selbst. Wenn man allerdings einen Blick wirft auf die Forschung zu Migration, dann ergibt sich ein anderes Bild.

Zum einen wird hier offen über Diskriminierung gesprochen. Es geht um Ausgrenzung struktureller Art, also durch Institutionen wie Schule oder Betrieb, aber auch um diskriminierendes Verhalten von Einzelpersonen, etwa von Pädagogen. Zum anderen befasst sich die Forschung mit den Veränderungen im Migrationsgeschehen. Solche Untersuchungen sind wichtig, weil sie zeigen, dass das derzeitige Allheilmittel „Integration“ auf einer Realitätswahrnehmung basiert, die eher den Einwanderungsbewegungen der 1970er-Jahre entspricht.

Zwei Bücher sind gerade erschienen, die den ersten Komplex abdecken. Ein Team um Helena Flam, Soziologin in Leipzig, hat die institutionellen Hürden für Einwanderer zusammengefasst. Die Arbeit war Teil eines EU-Projekts zu Diskriminierung. Primär geht es um Schule und Arbeit, aber auch die Gesetzgebung und die Einstellungen der Bevölkerung werden untersucht. Zwischen Literaturberichten und Interviews mit Lehrern oder Arbeitsvermittlern vermittelt die Lektüre ein ziemlich erschütterndes Bild.

Die deutsche Einwanderungsgesellschaft ist weiterhin geprägt von einer erstaunlichen Mischung aus Ablehnung, Ignoranz und Realitätsverleugnung. Ein Beispiel aus dem Schulalltag mag das verdeutlichen. Dass die Kinder von Einwanderern nur selten eine Empfehlung für das Gymnasium bekommen, ist mittlerweile bekannt. Als Begründung führen die verantwortlichen Lehrer zumeist mangelnde Sprachkompetenz an. Doch Flam und ihr Team konnten feststellen, dass es nicht einmal einen Standard gibt, um den Wortschatz der Kinder zu messen. Die Entscheidung fällt nach Gutdünken.

Je mehr Gutdünken im Spiel ist, desto mehr kommen Vorurteile zum Tragen. Pädagogen sind davon keineswegs frei, wie der Pädagoge Claus Melter in seiner Arbeit über „Rassismus in der Jugendhilfe“ herausgefunden hat. Melter weiß, wovon er spricht: Er hat selbst acht Jahre in der Jugendhilfe gearbeitet. Seine Dissertation basiert auf der Befragung von „Paaren“ – jeweils ein Jugendlicher und einen Jugendhelfer wurden zunächst separat und dann gemeinsam interviewt.

Dabei erfuhr Melter, dass Diskriminierungserlebnisse in der Beratungspraxis systematisch ausgeschlossen oder gar geleugnet werden. Selbst wenn Jugendliche von Demütigungen berichten oder wenn ihre ganze Situation zutiefst geprägt ist von aufenthaltsrechtlichen Schwierigkeiten, zeigen die Pädagogen gewöhnlich kaum Einfühlungsvermögen. Im Gegenteil. Die Beratungspraxis ist so sehr geprägt von Vorurteilen und der Perspektive der Mehrheit, dass Melter am Ende nicht umhinkann, diese Praxis selbst als „institutionellen Rassismus“ zu bezeichnen.

Besonders nachteilig, so Melter, macht sich bemerkbar, dass es keine pädagogischen Konzepte, Beratungsstandards oder auch Kontrollinstanzen gebe. Das Problem ist oft nicht eine bewusst verordnete Ausgrenzungspraxis, sondern ein durchaus chaotisches Gewirr von Prozessen, das gleichwohl Migranten ausgrenzende Effekte hat. Ein ähnliches Gewirr lässt sich auch in der Einwanderungspolitik auf europäischer Ebene beobachten.

Während konservative Politiker gern Kontrolle simulieren und Linke die „Festung Europa“ beklagen, ist die Lage weitaus komplizierter. Tatsächlich ist die Einwanderungspolitik in Europa in hohem Maße improvisiert. Sie beruht keineswegs nur auf Abwehr, sondern die Grenze wird auch durchlässig gehalten, denn der Arbeitsmarkt ist an Migranten interessiert. Zudem sind die Wandernden keineswegs nur arme Opfer des Apparats, sondern selbst aktiv: Sie zeigen eine immense Kreativität beim Auffinden von Schlupflöchern.

Ein solches Gewirr aus den letztlich unkontrollierbaren Bewegungen der Migranten und einer uneindeutigen Politik nennt die Forschungsgruppe Transit Migration in ihrem Buch „Turbulente Ränder“ ein „Regime“. Im Rahmen des Projektes Migration der Bundeskulturstiftung hat diese Gruppe sich das „Regime der Migration“ in Europa angeschaut – und zwar an Orten, die zumeist nicht im Fokus der Aufmerksamkeit liegen: in Griechenland, dem ehemaligen Jugoslawien oder der Türkei. Das Buch ist eine wahre Fundgrube von Recherchen und sei jedem empfohlen, der sich ein realistisches Bild des Einwanderungsgeschehens in Europa machen möchte.

Derzeit, so der Befund, produziert das „Migrationsregime“ in Europa „illegale“ Migranten. Das lässt die Rede von der Integration wie Hohn klingen. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass dieser Befund zur Kenntnis genommen wird. Um noch einmal zum Thema Diskriminierung zurückzukehren: Mittlerweile zeigt ein ganzer Berg von Untersuchungen, dass es das deutsche Schulsystem ist, dass Kinder mit Migrationshintergrund massiv benachteiligt. Doch selbst wenn der UN-Menschenrechtsbeauftragte diesen Befund bestätigt, finden sich die Verteidiger des Status quo zusammen, um zu behaupten: Der Befund ist falsch. Das macht Forschung zu einer veritablen Sisyphusarbeit.

Helena Flam (Hg.): „Migranten in Deutschland. Statistiken, Fakten, Diskurse“. UVK, Konstanz 2007, 19,90 Euro Claus Melter: „Rassismuserfahrungen in der Jugendhilfe“. Waxmann Verlag, Münster 2007, 39,90 Euro Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.): „Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas“. transcript, Bielefeld 2007, 24,80 Euro