Die vielen Tage der reitenden Leiche

Reue, Rache und Kaffee: „The Three Burials of Melquiades Estrada“, Tommy Lee Jones’ großartiges Regiedebüt

Die Leiche von Melquiades Estrada befindet sich bereits im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung, als sich eine Szene abspielt, die den moralischen Kodex des Regisseurs Tommy Lee Jones in einer Nussschale wiedergibt. Eine junge Mexikanerin mit Nasenpflaster wird zu Hilfe gerufen, um den Schlangenbiss eines US-amerikanischen Grenzpolizisten zu behandeln. Die beiden sind sich einige Tage zuvor schon einmal begegnet, und die gebrochene Nase der Mexikanerin ist das Souvenir an dieses unerfreuliche Aufeinandertreffen. Widerwillig versorgt das Mädchen die Wunde, rettet dem Cop wahrscheinlich das Leben, bevor sie ihm heißen Kaffee über die Beine kippt und ihm anschließend mit der leeren Kanne ihrerseits die Nase bricht. „Jetzt sind wir quitt“, faucht sie beim Verlassen des Raumes.

Vergebung und Vergeltung sind die beiden großen Themen, die Tommy Lee Jones’ Regiedebüt seelenruhig umkreist wie ein Aasgeier seine Beute. In „The Three Burials of Melquiades Estrada“ verschlägt es den Zuschauer tief in Sam-Peckinpah-Country. Lange nicht mehr hat eine Filmkamera die Gegend um den Rio Grande mit solch visueller Klarheit eingefangen. Für diese Bilder wurde das Cinemascope-Format entwickelt: Staubig, zerklüftet und auf unwirtliche Weise erhaben erstreckt sich die felsige Wüste bis an die Begrenzungen des Blickfeldes. Nur manchmal lassen die Verwerfungen der Landschaft kleine Wunder der Natur zu,wie die Sonnenblumenwiese, durch die ein Flüchtender getrieben wird.

Schönheit und Tod liegen in „The Three Burials …“ dicht beieinander, und Jones macht auf seine unnachahmliche No-Nonsense-Manier, die in den besten Momenten an Clint Eastwood oder Warren Oates erinnert, klar, dass es das eine nie ohne das andere gibt. Was im Übrigen auch für die Sache mit der Vergebung und der Vergeltung zutrifft.

Auch die Story von „The Three Burials of Melquiades Estrada“ ist Peckinpah pur. Melquiades Estrada ist von einem unbeherrschten Grenzpolizisten versehentlich erschossen und überhastet im Wüstensand verscharrt worden (die erste Beerdigung). Seine Leiche wird gefunden, doch der örtliche Sheriff zeigt kein Interesse an der Aufklärung des Mordes und lässt den Leichnam erneut der Erde übergeben. Der alte Cowboy Pete (gespielt von Tommy Lee Jones selbst) aber kennt den Täter. Er zwingt diesen, den Grenzpolizisten Mike, unter Waffengewalt, Melquiades wieder auszugraben und ihn in dessen Heimat Mexiko zu beerdigen. Die beiden brechen gemeinsam und auf Pferden zu ihrem Bußgang auf.

Jones misst mit diesem Film die soziale Topografie eines bislang unbekannten Mexiko aus. Um ein letztes Versprechen an den Freund einzulösen, wird der Cowboy Pete zum Outlaw. Auf seinem Weg nach Mexiko begegnen ihm Menschen, die selbst am Rande der Gesellschaft existieren: Grenzflüchtlinge, ein paar Jäger, ein blinder Einsiedler. Pete taucht ab, macht sich gemein mit ihnen. Er wird wie sie zu einem Mann, der seinen Platz in der Gesellschaft verloren hat.

In „The Three Burials“ wird etwa so viel geredet wird wie in einem Cormac-McCarthy-Roman – nicht viel also. Jones verzichtet auf den üblichen Bullshit zwischen Lonesome-Wolf-Neocon und Macho-Männerfreundschaft. Wenn Pete seinen toten Freund mit Frostschutzmittel abfüllt, um ihn zu konservieren, oder ihm liebevoll die Haare kämmt, beginnt man zu verstehen, dass Jones vielmehr die alte Vater-Sohn-Geschichte neu erfindet – auf ungewohntem Terrain. Dieses Mexiko hat sich seine Schönheit bewahrt, weil Jones seine Widersprüche nie aufzulösen versucht.

Einmal sitzt Pete im Niemandsland in einer Bar, während eine Frau auf einer ungestimmten Orgel Chopin spielt. Geräusche aus dem Fernseher vermischen sich mit der Musiknummer, ein surrealer Effekt, der noch um das irisierende Licht der Lampions verstärkt wird. Pete ist hier so fremd wie an jedem anderen Ort auf der Welt. ANDREAS BUSCHE

„The Three Burials of Melquiades Estrada“, R: Tommy Lee Jones, D: Tommy Lee Jones, Julio Cedillo, Dwight Yoakam; USA/Frankreich 2005, 114 Min.; läuft ab morgen im Kino Central