Berlins Bakunin raucht nicht mehr

NACHRUF Mit dem Karin Kramer Verlag gaben sie dem Anarchismus eine Heimat. Jetzt ist der Verlag verwaist – wenige Monate nach seiner Frau ist nun Bernd Kramer gestorben

Anarchisten hatten schon immer einen Hang zum Konventionellen. Das liegt wohl daran, dass sie davon ausgehen, dass der Mensch gut sei und nur die Umstände das nicht zulassen

VON HELMUT HÖGE

Am 5. September 2014 ist in Berlin der anarchistische Verleger Bernd Kramer gestorben. Er wurde 74 Jahre alt – genauso alt wie seine Frau Karin Kramer, die wenige Monate vor ihm am 20. März verstorben ist.

Der in Remscheid geborene gelernte Drucker war 1968 in Berlin Mitherausgeber der ersten anarchistischen Underground-Zeitung linkeck, Anfang der siebziger Jahre gründete er zusammen mit seiner Frau den Karin Kramer Verlag mit den Schriften Michail Bakunins – dem anarchistischen Gegenspieler von Marx in der Ersten Internationale. Bernd Kramer sah mit den Jahren und der Herausgabe weiterer anarchistischer Texte Bakunin immer ähnlicher. Deswegen setzte sich der Name „Karin Kramer Verlag“ nie so richtig durch, obwohl es auch eine Reihe mit Büchern anarchistischer Autorinnen gab. Daneben entstanden im Laufe der Zeit immer mehr autonome Ableger – in Bremen zum Beispiel der Impuls-Verlag, in dem ebenfalls einige Bakunensia erschienen.

Dem Kramer-Verlag glückte eine Zusammenarbeit mit dem streitlustigen Ethnologen Hans Peter Duerr, die in der Herausgabe der vierteljährlichen Aufsatzsammlung Unter dem Pflaster liegt der Strand bestand – von 1974 bis 1985. Sie hieß zeitweilig Zeitschrift für Kraut und Rüben und war es auch – auf hohem Niveau. Der Bremer Professor Duerr hatte sich zuvor mit seiner Doktorarbeit „Ni Dieu – ni mètre“ (Weder Gott noch Meter) als anarchistischer Erkenntnistheoretiker ausgewiesen. Ähnliches galt für den Bremer Philosophen Hans-Dieter Bahr, der im Kramer-Verlag eine Studie über „Anarchismus und Marxismus“ veröffentlichte.

Spätestens als Thomas Kapielski, der mit den beiden Verlegern einen Stammtisch im Goldenen Hahn am Heinrichplatz hatte, sein erstes Kramer-Buch – in Anspielung auf den Individualanarchismus und die stets prekäre Finanzlage des Verlags – „Der Einzige und sein Offenbarungseid. Verlust der Mittel“ nannte, das heißt ab Mitte der neunziger Jahre, geriet das Verlagsprogramm immer mehr in einen gemütlichen Spaßanarchismus. Das trennte die Kramers von den jungen Anarchisten, die seit der Wende wieder vermehrt in der Stadt auftraten. Diese gingen sogar – anarchopolitisch korrekt – so weit, Bernd Kramer wegen sexistischer beziehungsweise rassistischer Witze anzugreifen sowie in toto „seine Tendenz, jedwede Moral zu torpedieren“, wie es in einem Internetforum der Anarchos heißt.

„Sie haben das Prinzip ‚Stammtisch‘ nicht verstanden,“ würde Kapielski dazu sagen, der gerade ein dickes Buch über zwei Stammtische (in Berlin und Bayreuth) veröffentlicht hat: „Je dickens, destojewski!“ – allerdings im Suhrkamp Verlag.

Der Kramer-Verlag befand sich im hintersten Neukölln, Braunschweiger Straße, ich habe es nie bis dahin geschafft. Aber Bernd Kramer fuhr fast täglich – Zigarre rauchend – mit seinem Fahrrad in die Oranienstraße und darüber hinaus. Karin Kramer sah man seltener und sie war auch stiller. Aber jeder wusste, dass sie die eigentliche Verlegerin war. Wenn Bernd der Motor des Verlags war, dann war sie das Getriebe: Anarchisten hatten schon immer einen Hang zum Konventionellen. Das liegt, glaube ich, daran, dass sie davon ausgehen, dass der Mensch gut sei und nur die Umstände das nicht zulassen. Eine ganze anarchistische Anthropologie ist um diese Idee herum entstanden. Erst einmal wurden dadurch die Anarchisten selbst gut. Es gibt wahre Engel unter ihnen. Der bekannteste dürfte Peter Kropotkin gewesen sein, aber auch Emma Goldmann war nicht von Pappe.

Das Ehepaar Kramer hätte leicht noch 100 Jahre lebende und tote Anarchisten verlegen und immer mal wieder auch „live“ in Erscheinung treten können. Aber es hat nicht sollen sein. Dabei stand Bernd lange Zeit im Blauen Affen am Hermannplatz in einem „Diskussionszusammenhang“ mit den Neuköllner Immortalisten. Unter anderem wurde dort über den 1922 in der sowjetischen Staatszeitung Iswestija veröffentlichten Aufruf der anarchistischen Immortalisten gestritten, in dem es hieß: „Wir stellen fest, dass die Frage der Verwirklichung persönlicher Unsterblichkeit jetzt in vollem Umfang auf die Tagesordnung gehört.“

Karin und Bernd Kramer starben an Krebs, wie man so sagt. Es könnte sie im Nachhinein trösten, dass einige Embryologinnen am Pariser Institut Pasteur festgestellt haben, dass das Austragen eines Kindes und das Wachsen eines bösartigen Tumors identische Vorgänge sind: Der Fötus ist ein fremdes Stück Fleisch, ein Pfropf, den der Körper der Mutter abzustoßen versucht. Aber dem Fötus wie dem Krebs gelingt es, das Immunsystem seines Wirts erfolgreich zu blockieren. Zwischen ihnen gibt es laut den Embryologinnen nur einen wesentlichen Unterschied: „Aus der befruchteten Eizelle entwickelt sich ein neuer Staat, mit dem Krebs bricht dagegen die Anarchie aus.“

■  Auf der Webpräsenz der „Datenbank des deutschsprachigen Anarchismus“, www.dadaweb.de, ist eine Gedenkseite für Bernd Kramer eingerichtet, auf der auch Nachrufe unter anderem von Wolfgang Haug und Klaus Bittermann zu lesen sind