Bewundert die Welt!

„Die Geschichte der Wapshots“: John Cheevers wortgewaltiger und lebenskluger Roman ist neu auf Deutsch erschienen – ein weitgespanntes Panorama über den Alltag in den USA

VON FRANK SCHÄFER

Ein merkwürdiger Flickenteppich von einem Roman. Man möchte fast die schlechten zeitgenössischen Kritiken aus den späten Fünfzigerjahren zitieren – die es neben den Elogen eben auch gab und die dem damals bereits berühmten Short-Story-Autor John Cheever mangelnde architektonische Fähigkeiten vorwarfen – und würde damit das Bauprinzip komplett missverstehen. Cheever ist ein Sammler von emotionalen Standardsituationen, von Lebensweisen, Attitüden und Schrullen, er sieht gerne Menschen bei ihren alltäglichen Verrichtungen zu. Und die Struktur der „Geschichte der Wapshots“ trägt dem Rechnung, es geht Cheever hier vor allem um eine formale Erweiterung der Kapazitäten des modernen Romans.

Der soll sich den vielfältigen Reaktionen der Menschen auf die diversifizierte moderne Welt besser gewachsen zeigen, deshalb bricht Cheever das von Sherwood Anderson in „Winesburg, Ohio“ (1919) und John Dos Passos in „Manhattan Transfer“ (1925) etablierte offene Romanprinzip noch weiter auf, indem er auch die Einheit des Ortes drangibt. Das topografische Zentrum der ahnenreichen Familie Wapshot ist zwar das fiktive St. Botolphs, ein kleines Fischerstädtchen in Massachusetts, aber die Protagonisten verschlägt es immer wieder in die großen Städte Boston, Washington, New York, denn hier lebt, liebt und stirbt es sich anders.

Cheever erzählt episodisch, polyperspektivisch, auch stilistisch heterogen, die Kapitel sind häufig genug kleine, abgeschlossene Storys – aber zweifellos bilden diese Episoden eine Einheit. Und es sind nicht nur die Wapshot-Charakterköpfe, die hier den Zusammenhalt stiften, sondern einmal die durchgängige mythische Unterströmung, für die sich Cheever mit vorweggenommener postmoderner Libertinage bei der Bibel genauso viel borgt wie etwa bei der „Odyssee“ oder dem Ikarus-Mythos, und zum anderen die Vorausdeutungen, Motivwiederholungen und Reprisen in diesem Buch – wie die immer wieder zitierten Briefe und autobiografischen Auslassungen des angeschlagenen Patriarchen Leander Wapshot, dessen gehetzter Stenogrammstil einen hübschen Kontrast bildet zur leicht pathetischen, altmeisterlichen Diktion des auktorialen Erzählers.

Leander ist die eigentliche Hauptfigur, ein Charakter, der – stellvertretend für den Roman – grandios changiert zwischen tiefer Weltweisheit und Aberwitz, zwischen Tragik und Komik. Und in dessen Personalstil manifestiert sich Cheevers sprachliche Meisterschaft. Diese durch den Häcksler gedrehte, elliptische und vermeintlich so aliterarische Prosa hat nicht nur Verve, sie ist vor allem das adäquate Medium für dessen frühen Verlust des Vaters und später der geliebten ersten Frau. Sie geht ins Wasser, weil sie ihr uneheliches Kind weggeben muss, um die gesellschaftliche Schmach abzuwenden.

In der Romangegenwart schippert der alternde Leander täglich mit der alten Barkasse „S. S. Topaze Passagiere flussabwärts zur nächsten Stadt und zum Vergnügungspark an der Küste. Sein Stolz ist ziemlich lädiert, denn das Schiff, die kleine Farm und auch sonst alles gehört seiner Cousine Honora. Die hat das Geld und also die Hosen an. Als die „Topaze“ während eines Sturms kentert und ihm keiner Kredit gibt für die umfangreichen Reparaturen, macht seine Frau ihren alten Traum wahr und aus dem Schiff einen schwimmenden Souvenirladen. Leander ist außer sich, täuscht einen Selbstmordversuch vor, schießt mit der Pistole aus dem Fenster, aber bis auf die Magd hört ihn keiner. Als er am Ende des Buches beim Schwimmen im Meer verschwindet, gibt es eine Beerdigung, die auch eher zum Lachen ist. „Als der Pfarrer aus dem Johannes-Evangelium zu lesen begann, erhob Honora die Stimme. ‚O nein‘, sagte sie laut, ‚wir hatten doch immer die Korintherbriefe.‘“

Schließlich behält Leander aber doch das letzte Wort – auch des Romans. Seine beiden Söhne Moses und Coverly finden in einem Buch eine Art Testament, „Ratschläge für meine Söhne“: „Bei Reisen in Staaten oder Länder mit Alkoholverbot nie Whiskey in Wärmflaschen schmuggeln. Schmeckt sonst nach Gummi. Vor dem Beischlaf immer die Hose ausziehen … Nicht in ungeheizten Steinkirchen niederknien. Feuchtigkeit in Kirchen sorgt für vorzeitiges Ergrauen. Furcht schmeckt wie ein rostiges Messer, lasst sie nicht in euer Haus. Mut schmeckt nach Blut. Haltet euch gerade. Bewundert die Welt.“

Die letzte Maxime hat sich auch Cheever zu Herzen genommen. Dieses Buch ist voller Anekdoten, Binnengeschichten, satirischer Kabinettstückchen, die zunächst wenig funktional erscheinen. Aber nicht zuletzt diese Abschweifungen machen aus ihm ein weitgespanntes Panorama des US-Alltags im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts – mit anschaulichen, lebendigen Rückblicken auf die letzten beiden Dekaden des 19., wenn man Leanders krude Erinnerungen noch hinzunimmt.

Nichts Menschliches ist Cheever fremd, und so zeigt er auch deutlich, wenn auch immer geschmackvoll, dass die Liebe keine völlig ätherische Angelegenheit ist. Als eine Verwandte der Wapshots zufällig eine Mohrrübe erntet, die wundersamerweise aussieht wie das Gemächt ihres Mannes, macht sie sich gleich auf zur Freundin Reba Heaslip die Straße runter. „Ich dachte, sie als alte Jungfer müsste das interessieren. Sie war in der Küche, und ich gab ihr die Möhre. ‚So sieht das aus, Reba‘, sagte ich. ‚So und nicht anders.‘“

Sogar über Homosexualität schreibt er mit einer Unbefangenheit, die man in diesen Zeiten am ehesten noch bei der Beat Generation findet. Als Coverlys Vorgesetzter ihm Avancen macht und er, frisch von seiner Frau verlassen, dessen Werben fast nachgegeben hätte, durchleidet er zwar zunächst eine Krise. Aber dann schreibt er seinem Vater, und Leander kann ihn trösten. Er berichtet von seinen eigenen einschlägigen Erfahrungen – und schließt unnachahmlich, lebensklug und zugleich unfreiwillig komisch: „Das Leben kennt schlimmere Nöte. Sinkende Schiffe.“

John Cheever: „Die Geschichte der Wapshots“. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Dumont, Köln 2007, 384 Seiten, 19,90 Euro