Antifaschistische Gedenkläufe

HOLOCAUST Die Ausstellung „Sachsenhausen mahnt!“ zeigt, wie in der DDR die Erinnerung an die Judenvernichtung politisch ins Abseits gedrängt wurde

Es klingt wie die Rede eines Mitglieds des Zentralkomitees der SED: „In Westdeutschland erhebt der Faschismus unter dem Schutz der Adenauer-Regierung, dieser Regierung der Revanchisten, der Militaristen und Hitler-Generale, wieder sein Haupt.“ Mit diesen Worten mahnte der französische Sachsenhausen-Überlebende Fernand Chatel 1960 die Errichtung einer Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers im Norden von Berlin an. Chatel war Sekretär der „Amicale d’Oranienburg-Sachsenhausen“, in der sich ehemalige Häftlinge der Lager Sachsenhausen und Oranienburg aus vielen Ländern zusammengeschlossen hatten und die sich für die Errichtung von Gedenkstätten einsetzte.

Chatels Rede liegt als eines von vielen Dokumenten gleich eingangs der Sonderausstellung „Sachsenhausen mahnt!“ aus, die derzeit auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers auf die Geschichte der Gedenkstätte zurückblickt. Die Ansprache des Franzosen macht als eines von vielen Exponaten klar, wie stark politisiert die Vorbereitungen der Gedenkstätteneröffnung waren beziehungsweise wie sehr die ehemaligen politischen Gefangenen die Debatte bestimmten.

Ihre antifaschistische Rhetorik hatte sicherlich strategische Gründe. Doch sie entsprach auch dem politischen Verständnis der federführenden Mitglieder der Überlebendenvereinigungen, die den Einsatz gegen den Faschismus nach wie vor als Lebensaufgabe verstanden. Der Wunsch vieler jüdischer Häftlinge, der ermordeten Opfer aus ihren Familien zu gedenken, kam nur schwer gegen die Kampfesrufe aus dem linken Lager an.

Erzählende Bilder fehlen

Die Betonung der antifaschistischen Volksbildung passte auch der DDR-Führung besser ins Konzept als die Erinnerung an die Judenvernichtung. Beim Festakt zur Eröffnung der Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen am 23. April 1961, zu dem auch der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht erschien, fanden die jüdischen Opfer nur am Rande Erwähnung. Auch der ermordeten Insassen des sowjetischen Speziallagers, das, von der Potsdamer Konferenz legitimiert, 1945 bis 1950 auf dem Boden des Konzentrationslagers eingerichtet war, gedachten die Redner nicht.

Dass sie das Holocaust-Gedenken ins Abseits drängten, empfanden die Eröffnungsredner offenbar nicht als Widerspruch. Eine Angriffsfläche boten ihnen stattdessen der Eichmann-Prozess in Jerusalem und Hans Globke. Dieser hatte den juristischen Kommentar zu den sogenannten Rassegesetzen von 1935 formuliert und diente der Adenauer-Regierung nun als Staatssekretär. In Westdeutschland verteidigte das konservative Lager den Juristen mit dem Argument, er habe immerhin versucht, den Nationalsozialismus in rechtlich bindende Bahnen zu lenken.

Zu Globke liegt ein Wahlplakat in der Ausstellung aus, das ihn als Judenhasser zeigt. Das Wahlplakat wurde jedoch gar nicht zur Eröffnung von Sachsenhausen gedruckt. Das ist das Problem der Ausstellung, die wenig über Bilder erzählen kann und stattdessen viele erklärende Text braucht.

Nur wenige Monate nach Eröffnung der Gedenkstätte ließ Ulbricht wegen der Massenflucht die Mauer bauen. Die Ausstellung macht deutlich: Der Einsatz der DDR-Staatsspitze für die Gedenkstätte und der Mauerbau waren zwei Ausprägungen ein und desselben Legitimationsversuchs des stark isolierten Staates: des antifaschistischen Kampfs.

Dieser fand im Laufe der Zeit noch ganz andere Ausprägungen: In Sachsenhausen fanden ab dem Eröffnungsjahr regelmäßig Gedenkläufe statt. Erst legten die Läufer einen Kranz nieder, dann fiel der Startschuss. Die im selben Raum befindliche Dauerausstellung zeigt Bilder von schnauzbärtigen Läufern mit Nummern auf dem Trikot, die vor dem 40 Meter hohen Obelisken, dem zentralen Mahnmal, entlangspurten. Die Sachsenhausen-Gedenkläufe gibt es übrigens immer noch, sie verlaufen nur nicht mehr durch das Lager.

CLEMENS TANGERDING

■ Die Ausstellung „Sachsenhausen mahnt!“ ist noch bis zum 30. Oktober geöffnet