wahre liebe … von ALBERT HEFELE
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… doch, die gibt es noch. Mir ist sie kurz nach Mitternacht in einer Berliner U-Bahn begegnet. Also – nicht mir direkt, sondern vielmehr war ich Zeuge, wie sich in einem dieser schrundigen, etwas vermüllten, verwohnten U- Bahn-Waggons die wahre Liebe ereignete. Zwischen – Sie werden es vermutet haben – einem Mann und einer Frau. Einem jungen Mann und einer noch jüngeren Frau. Er, ein strammer, bis zum Scheitel hoch geschorener, vom vielen Hamburger-Mampfen etwas ausladend konturierter Mensch mit zerquollenen Äuglein. Sie eine bis zur Durchsichtigkeit zierliche Person, deren große Tasche über den Boden schleifte und die ihre schwarzen Jeans in die modisch hochhackigen Stiefelchen gestopft hatte.

Alle jungen Damen im Waggon hatten ihre Jeans in die Stiefelchen gestopft. In die Stiefelchen, auf denen sie seltsam krummbeinig torkelnd den Waggon querten. Schuld war auch ein Weniges zu viel an Alkohol, aber vor allem – wie mir schien – die Stiefelchen. Derer sie nicht im Ansatz Herr wurden und die sie dazu zwangen, wie weiland John Wayne einherzueiern.

Aber das nur nebenbei, denn es ging um das Ereignis der wahren Liebe. Unser Pärchen nämlich saß eng aneinander gelehnt im Waggon –, was noch kein Beweis für extreme Zuneigung wäre. Auch nicht, dass sie ihm, wenn er ihr das gespitzte Lippenpaar bot, willig entgegenkam. Das machen viele, ohne dass ich deswegen eine extreme Zuneigung vermuten würde. Wichtiger erschien mir schon damals die Tatsache, dass er – der Hochgeschorene – eine Krone aus Papier trug. Und ganz eindeutig dem Teufel Alkohol in hohem Maße zugesprochen hatte. So eindeutig, dass er nur mit Mühe, die ihn offenbar quälenden Magenturbulenzen zähmen konnte.

Geradliniger formuliert: Die Kotze stand ihm Oberkante Unterlippe, und hin und wieder ließ er zierliche Mengen seines unguten Körperinhaltes über eben jene Unterlippe auf den Boden des Waggons perlen. Denn jede Unebenheit, die er qua Waggongerumple verarbeiten musste, forderte ein fast unmenschliches Ausmaß an Konzentration und Beherrschung und brachte ihn an den Rand einer peinlichen Katastrophe. Ich besah die Szene aus gebührender Distanz und bewunderte ihn wirklich. Welch ein verzweifelt geblähtes, wachsweißes Wangenpaar unter der neckisch-tragisch das geschorene Schädelchen schmückenden Krone. Welch ein heroischer Kampf um männliche Würde, ohne gänzlich auf einen Rest von Nonchalance zu verzichten.

Ich bin mir sicher, auch seine Begleiterin spürte die Größe, die sich hinter der albern neben ihr hin- und hersackenden Gestalt verbarg. Deswegen küsste sie auch ihren sicher nicht gut riechenden und fein schmeckenden Galan ein ums andere Mal auf seine Kotzschleuse.

Ich habe beiden unausgesprochen alles Beste für den weiteren Abend und ihr weiteres Leben gewünscht. Sie würden es ohne Zweifel meistern. Schulter an Schulter – so sah ich sie auch noch sitzen, von draußen, als ich den Waggon bereits verlassen hatte. Sie ihn scheu von der Seite studierend – er hin und wieder ein wenig Mageninhalt absondernd. So werde ich sie in Erinnerung behalten – ein Sinnbild wirklich wahrer Liebe.