NEUE DEUTSCHE NÄHWELLE
: Bunt und knackig

Sind wir alle retro oder was?

Frau Tulpe ist ganz entzückend. Ich besuche sie am liebsten an grauen Tagen, wenn man eine Aufheiterung gut gebrauchen kann. Ihre Äpfel sind die buntesten und knackigsten der Stadt. Auf Topflappen und der Frau-Tulpe-Einkaufstasche sehen sie wie die pralle Hoffnung auf Frühling, Leben und Niedlichkeit aus.

An einem Samstag war es wieder so weit. Frau Tulpe platzte aus allen Nähten: Frauen, Mädchen und Damen belagerten den Laden, um zuckersüße Stoffe für das Kinderzimmer im Prenzlauer Berg oder eine verspielte Borte für den neuen Rock zu kaufen. Trotz Meterpreisen, die sich dem Goldpreis verdächtig annähern und Amateurtum („Schaun wer mal, watt et wird“) ausschließen.

Also nichts für mich, die ich zwar Bettwäsche, Kissenbezüge und Vorhänge hurtig auf der Nähmaschine runterrattere, aber bei Schnittmustern skeptisch und ungeduldig werde.

Frau Tulpe sehe ich seither überall: Auf dem Mauerpark-Flohmarkt scheinen die Hälfte aller „Ich verkaufe diesen süßen Berlin-Stil“-Stände mit nettem, genähtem Schnickschnack, die immer mehr werden, bei ihr eingekauft zu haben. Rollt die neue deutsche Nähwelle durchs Land?

Eine Gratispostkarte im Café zu „Neuköllner Stoff am Maybachufer“ war der nächste Bote. Dann ein Hinweis im „Himbeer“-Magazin auf ein Nähcafé in Friedrichshain. Schließlich Mama Makada, „offene Nähwerkstatt und Nähschule“ und dann auch noch die Kollegin, die neuerdings nähen statt feiern geht. Sind wir alle retro oder was?

Vor ein paar Tagen sah ich, wie meine Nachbarin ihr neu geborenes Baby im Kinderwagen mit einem Federkissen zudeckte, bezogen mit knackigen, bunten Äpfeln. Und, selbst genäht? „Nö, das haben meine Eltern aufgehoben. Ist noch von mir!“

Schade eigentlich. Wäre ein schönes Geschenk zur Geburt gewesen. MIRIAM JANKE