Der Mädchenraub von Chalatenango

VERMISST Im Bürgerkrieg von El Salvador wurden Tausende Kinder von Soldaten verschleppt, viele Angehörige suchen bis heute. Der Verein Pro-Búsqueda hilft dabei. Das Geld der taz-Kampagne „Waffen für El Salvador“ soll ihn unterstützen

■ Der Bürgerkrieg: Von 1980 an wird die Geschichte El Salvadors von einem grauenvollen Bürgerkrieg bestimmt – 75.000 Ermordete, 8.000 Verschwundene. Die von den USA unterstützte Militärdiktatur wird von einer linken Guerilla bekämpft, die sich nach dem prominenten kommunistischen Politiker Agustín Farabundo Martí nennt. 1992 einigen sich Regierung und Guerilla auf einen Friedensschluss.

■ Die taz-Kampagne: Am 3. November 1980 ruft die taz auf ihrer Titelseite zu Spenden auf: „Waffen für El Salvador“. Damit soll die linke Guerilla in ihrem Freiheitskampf unterstützt werden. Bis 1992 kamen insgesamt 4,7 Millionen D-Mark zusammen. taz-Mitarbeiter organisierten die Geldübergabe und trugen Tausende von D-Mark in Plastiktüten zu den Guerilla-Kommandanten, die ihnen dafür Quittungen ausstellten.

■ Das Restgeld: 2013 fällt taz-Mitbegründer und Waffenkampagnen-Initiator Hans-Christian Ströbele auf, dass das Spendenkonto noch existiert, obwohl der Bürgerkrieg seit 1992 beendet ist. 2.222,62 Euro sind drauf – was tun? Die Organisation Pro-Búsqueda soll sie bekommen, die weltweit nach Menschen sucht, die als Kinder im Bürgerkrieg von Soldaten verschleppt und als Adoptivlinge verkauft wurden.

VON TONI KEPPELER

Die Geschichte beginnt mit einem Verbrechen, begangen am 2. Februar 1981 im Norden von El Salvador, in den Hügeln der Provinz Chalatenango. Ein paar Tage zuvor war die Regierungsarmee in dieses von der Guerilla kontrollierte Gebiet eingedrungen, mit mehreren tausend Mann und Unterstützung aus der Luft. Der Bauer Tomás Oliva aus dem Weiler El Cerrón wollte seine Familie in Sicherheit bringen: seine Frau María Avelar und die vier Kinder José Fredy (6), María Delia (3), Santos Catalina (2) und die drei Tage alte Elizabeth. Mit den Frauen und Alten des Weilers marschierte die Familie acht Stunden lang auf den höchsten Berg der Gegend. Dort, glaubte Don Tomás, könne Frau und Kindern nichts passieren. Er selbst schloss sich der Guerilla an.

Am 2. Februar stießen Soldaten auf das Versteck. Sie erschossen alle Erwachsenen. Auch die Kinder sollten ermordet werden. Doch der Soldat, der den Befehl dazu bekommen hatte, schaffte es nicht, ein Baby zu massakrieren. Elizabeth wurde verschont und das rettete auch das Leben ihrer Geschwister. Die Soldaten steckten die drei Größeren in Rucksäcke, Elizabeth trug der Mann, der sie hätte erschießen sollen, auf den Armen davon.

Zwölf Jahre währte der Bürgerkrieg in El Salvador. 75.000 Menschen wurden ermordet, 8.000 sind verschwunden. 1992 einigten sich die rechte Regierung und die linke Guerilla der Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí, bekannt als FMLN, auf einen Friedensvertrag. In einem Park im Zentrum der Hauptstadt San Salvador erinnert heute eine lange Wand aus schwarzem Stein, in den die Namen der Opfer eingraviert sind, an das Gemetzel. Die größte Rubrik sind die Toten, die Liste der Verschwundenen ist deutlich kürzer. Die kürzeste von allen ist die der Wiedergefundenen. Auf ihr steht auch der Name María Delia Avelar Oliva, die am 2. Februar 1981 zusammen mit ihren drei Geschwistern von Soldaten verschleppt worden war.

María Delia hat heute einen anderen Namen, wohnt in einer Kleinstadt im Norden der Schweiz und spricht die dortige Mundart. Dass sie anders ist als die anderen, hat sie schon als kleines Kind gemerkt. Ihre Haut hat den Ton von Milchkaffee, ihre Augen sind dunkelbraun, ihre krausen Haare glänzend schwarz. „Natürlich habe ich gefragt: Mama, war ich in deinem Bauch?“ Da erzählten ihr die Eltern, dass sie Waise sei. Dass sie ihre Eltern verloren habe im Bürgerkrieg in El Salvador und dass es dort keine Verwandten mehr von ihr gebe. „Ich habe mir diese Geschichte wieder und wieder erzählen lassen.“ Niemand sagte ihr, dass sie eines der vielen Kinder ist, die damals vom Militär geraubt und verkauft wurden. Heute ist sie Mitte dreißig und weiß, dass sie Geschwister hat und Verwandte in El Salvador, dass ihr Vater noch lebt.

Der Raub von María Delia und ihren Geschwistern war einer der ersten Fälle von Kindesentführung durch die Armee. Es mögen tausend gewesen sein, vielleicht auch doppelt so viele, die von Soldaten in Kasernen verschleppt, von dort auf Waisenhäuser verteilt und dann über Anwälte und korrupte Familienrichter als „Adoptivkinder“ verkauft wurden. Genaue Zahlen gibt es nicht. Allein Pro-Búsqueda, eine Selbsthilfeorganisation von Familienangehörigen verschwundener Kinder, hat über 900 Fälle registriert. Fast 400 von ihnen wurden inzwischen gefunden. Viele waren von Paaren in den USA adoptiert worden, einige Dutzend leben heute in Frankreich und Italien. Mindestens drei sind in der Schweiz aufgewachsen. Auch nach Deutschland führen Spuren; gefunden aber wurde noch niemand.

Mehr als hundert der Wiedergefundenen haben El Salvador nie verlassen. Die einen blieben in Waisenhäusern, weil sich nie ein adoptionswilliges Paar gefunden hatte. Andere wurden an Militärs verschenkt. Der Soldat, der sich im Dschungel von Chalatenango von María Delias kleiner Schwester hatte anrühren lassen, behielt das Baby und ließ es als Tochter seiner Frau registrieren – ganz ohne formale Adoption.

Nur wenige Soldaten sprechen über den damaligen Kinderraub, und wenn, dann wollen sie meist anonym bleiben – aus Scham, aber auch aus Angst vor ihren Kameraden und vor denen, die damals das große Geschäft machten. „Zwischen 5.000 und 20.000 Dollar verlangten Anwälte für ein Kind“, sagt Ester Alvarenga, die seit zwanzig Jahren für Pro-Búsqueda arbeitet. „Den Adoptiveltern sagten sie meist, das seien Gerichts- und Anwaltsgebühren.“ Im El Salvador der achtziger Jahre war das ein stattliches Vermögen. Anwälte richteten in der Hauptstadt Kinderheime ein, die im Jargon der Schieber „casa de engorde“ – Häuser zum Dickwerden – hießen. Dort wurden die ausgehungerten Kleinen aus den Kriegsgebieten aufgepäppelt, bevor man sie der ausländischen Kundschaft präsentierte.

„Ehemalige Soldaten haben uns erzählt, dass sie spätestens seit 1982 den Befehl hatten, alle Kinder mitzunehmen, die sie bei einem Angriff antrafen“, sagt Alvarenga. Meist wurden die Erwachsenen ermordet. Offiziell aber wird der Befehl zum Kinderraub bis heute abgestritten. General Mauricio Vargas, der bei den Friedensverhandlungen mit der Guerilla die Armee vertrat, höhnt gar: „Wo sollen diese Kinder denn sein? In irgendeinem geheimen Waisenhaus? Oder haben wir sie am Ende aufgefressen? Gebacken, gebraten oder gekocht?“ Diese Geschichten von geraubten Kindern, das sei „wie ein Roman von García Márquez.“

Lange hat niemand Fragen gestellt

„Ich habe meine Eltern nie gefragt, wie viel sie für mich bezahlt haben“, sagt María Delia. „Ich habe mich das nie getraut.“ Auch in El Salvador stellte lange niemand Fragen. Einzelne Mütter, die sich bei der Suche nach ihren Kindern an die Staatsanwaltschaft wandten, wurden abgewiesen. Sie seien Lügnerinnen oder Rabenmütter, die nicht auf ihren Nachwuchs aufgepasst hätten. Später, nach dem Friedensvertrag, beriefen sich Richter auf ein Amnestiegesetz für Kriegsverbrechen, das vom damals von rechten Parteien dominierten Parlament nach Ende des Bürgerkriegs erlassen worden war. Darauf pocht die Armee bis heute. Pro-Búsqueda bekam nie Einsicht in die Militärarchive.

Die Selbsthilfeorganisation wurde 1994 gegründet und fand noch im selben Jahr – eher zufällig – das erste Kind in einem Waisenhaus. Das Mädchen war leicht zu identifizieren: Kurz bevor es geraubt worden war, hatte es bei einem Luftangriff einen Arm verloren. Ein entfernter Verwandter glaubte, es gesehen und erkannt zu haben, und Pro-Búsqueda fragte nach. Solche Zufälle sind selten. In der Regel sind Erfolge bei der Suche das Ergebnis langer kriminalistischer Kleinarbeit: Rechercheure befragen Angehörige und mögliche Zeugen des Kinderraubs; Studenten haben Zehntausende von Adoptionsakten nach Spuren durchforstet; eine Ärzteorganisation in den USA hat eine DNA-Datenbank erstellt, um Proben von wahrscheinlich geraubten Kindern mit denen von Angehörigen abgleichen zu können.

Eine Kombination aus Zeugenaussagen, Adoptionsakten und einem DNA-Test als letztem Beweis führten auch zum Auffinden von María Delia. „Wir wussten, dass die 4. Infanteriebrigade die Kinder von Tomás Oliva mitgenommen hatte“, erzählt Ester Alvarenga. Ein ziviler Angestellter der Einheit hatte das den Rechercheuren gesagt. Der wusste auch, dass drei der vier Geschwister an ein Waisenhaus in San Salvador weitergereicht worden waren. Dort verlor sich zunächst die Spur. Bis Studenten in San Salvador auf eine Akte stießen, nach der ein Mädchen von einem Schweizer Paar adoptiert worden war. Dieses Mädchen sei verlassen aufgefunden worden – genau an jenem Tag und an jenem Ort, an dem die Frauen und Alten des Weilers El Cerrón in Chalatenango ermordet und María Delia und ihre Geschwister verschleppt worden waren. Nur der Name stimmte nicht.

In den Akten des Waisenhauses wurde María Delia zunächst als Kind mit unbekanntem Namen geführt. Später nannte man sie Diana Hernández und verschaffte ihr eine gefälschte Geburtsurkunde auf noch einmal einen anderen Namen. Danach soll sie in San Salvador auf die Welt gekommen sein, der Verbleib ihrer Eltern sei unbekannt.

Es ist nun gut fünfzehn Jahre her, dass die damals knapp zwanzigjährige Frau einen Brief von Pro-Búsqueda erhielt; die Adresse war leicht herauszufinden. „Da stand eine unglaubliche Geschichte drin, und das sollte meine Geschichte sein.“ Es war die Geschichte von ihr und ihren Geschwistern, vom Mord an ihrer Mutter, vom Waisenhaus, vom neuen Namen, von der Adoption – und von ihrem Vater Tomás Oliva, dem Bauern in El Cerrón in Chalatenango, der noch immer nach ihr suchte.

Zwölf Jahre währte der Bürgerkrieg in El Salvador. 75.000 Menschen wurden ermordet, 8.000 verschwanden. 1992 schlossen Regierung und Guerilla Frieden

María Delia war aufgewachsen wie ein Kind der Schweizer Mittelschicht und steckte damals mitten in einer Berufsausbildung. Ihr frühkindliches Spanisch hatte sie längst vergessen. „Irgendwann wollte ich diese Sprache lernen.“ Und irgendwann nach El Salvador reisen, um zu sehen, wo sie herkommt. „Ich wusste, dass es dort ganz anders ist als in der Schweiz, und ich wusste, dass das kein Land für eine Urlaubsreise ist.“ Aber das waren vage Pläne. Erinnerungen hatte sie nicht. Erst jetzt, da sie ihre Geschichte kennt, glaubt sie, dass ganz tief in ihr etwas geblieben ist. „Ich habe Angst, wenn ich Militär auf der Straße sehe, auch hier in der Schweiz“, sagt sie.

Zunächst aber hat sie das, was in dem Brief stand, „nicht geglaubt“. Sie schrieb an die Leute von Pro-Búsqueda, dass sie gerade eine Ausbildung mache und dass das wichtiger sei für sie. Aber die ließen nicht locker, schrieben immer wieder, boten psychologische Hilfe an und schickten Fotos von dem Mann, der ihr Vater sein sollte. Sie wurde die Geschichte nicht mehr los. Es bohrte in ihr, „irgendwann habe ich einen Bluttest machen lassen. Ich wollte sicher sein.“ Und als sie sicher war, stand auch fest, dass sie nach El Salvador reisen würde. Nicht gleich, erst wollte sie Spanisch lernen. Ihrem leiblichen Vater gegenüberzustehen und ihm nichts sagen zu können, das er verstehen könnte, das wollte sie nicht.

Sie brauchte sieben Jahre bis zur Rückkehr

„Sie hat viel Zeit gebraucht“, sagt Ester Alvarenga, „so lange wie kaum ein anderes Kind, das wir ausfindig gemacht haben.“ Vom ersten Kontakt bis zur Reise nach El Salvador vergingen sieben Jahre. María Delia bekam in dieser Zeit keine Unterstützung von ihren Adoptiveltern. „Sie wollten sicher das Beste für mich“, sagt sie. Aber dass sie nach El Salvador reisen wollte, um sich ihrer eigenen Geschichte zu stellen, „dafür hatten sie kein Verständnis“.

Auch sie selbst hatte Zweifel. Dort wartete ihr Vater auf sie, die jüngere Schwester, die bei dem Soldaten aufgewachsen war. „Aber das waren ja völlig fremde Menschen für mich. Was mache ich, wenn ich sie unsympathisch finde?“ Trotzdem lernte sie Spanisch, hatte irgendwann „ein gutes Gefühl“, nahm unbezahlten Urlaub, reiste zu einem Intensivsprachkurs nach Costa Rica und von dort nach El Salvador – für eine Woche. Besser, man kann schnell wieder verschwinden.

Mitarbeiter von Pro-Búsqueda holten sie vom Flughafen ab, schickten ihr eine Psychologin ins Hotel. „Die konnte mir nicht viel helfen“, sagt sie. „Ich konnte zu wenig Spanisch und sie zu wenig Englisch.“ Sie habe versucht, nicht zu viel zu erwarten. Cool bleiben. Keine Enttäuschung zulassen. Und doch war da „eine große Unsicherheit“, die Frage, die wohl jedes Kind umtreibt, das nach bald dreißig Jahren zum ersten Mal seinen Vater sehen soll. „Wird er mich mögen?“

Natürlich mag er sie. Tomás Oliva strahlt noch heute, wenn er davon erzählt, wie es war, als seine älteste Tochter in den Hof vor seiner Hütte kam. „Ich wusste sofort: Das ist sie. Das ist meine Tochter! Wie könnte ein Vater seine Tochter nicht erkennen?!“ Der Ton ihrer Haut, die krausen Haare – „ganz wie die Mutter. Sie ist eine hübsche Frau geworden.“

Die Hütte von Don Tomás hat nur einen Raum; die Wände aus Lehm, der Boden nackte Erde, das Dach aus Ziegeln. Gekocht wird auf dem offenen Holzfeuer, draußen, wegen des Rauchs. Ein paar Schritte abseits steht die Latrine. Am Tag, als María Delia kam, waren Haus und Hof geschmückt mit bunten Luftballons und Papiergirlanden. Die Verwandtschaft war da, die Nachbarn. Und die zweite Frau von Don Tomás und die fünf Kinder, die das Paar zusammen hat. Für Don Tomás war der Tag ein großes Fest. María Delia war erschrocken. „So viel Trubel!“, sagt sie. „Dabei hätte ich mir Ruhe gewünscht“ – Ruhe für eine vorsichtige Annäherung.

Ihr war schon mulmig geworden, als der Geländewagen, der sie zu ihrem Vater brachte, von der asphaltierten Überlandstraße abgebogen war und auf einem staubigen Feldweg ins Hinterland holperte. „So viel Armut“, sagt sie. „Das hatte ich nicht erwartet.“ Dort, wo der Feldweg zu Ende ist, geht man auf einem schmalen Pfad ein paar Schritte die Böschung hinunter, dann ist man im Hof. „Die Landschaft, die Natur dort, das ist wunderschön“, sagt sie und es klingt fast so, als wolle sie mit ein bisschen Idylle das angetroffene Elend übertünchen. Doch es geht nicht. „Ich hätte da nicht übernachten können, in diesem ärmlichen Haus mit einem Plumpsklo dahinter. Da bin ich doch zu sehr Schweizerin geworden.“ An diesem Tag konnte sie nicht richtig warm werden mit ihrer neuen Familie.

Sie fuhr noch einmal hin, zusammen mit ihrer Schwester Elizabeth, die immer in San Salvador geblieben war. Don Tomás führte die beiden an diesem Tag zu dem Haus, in dem sie zur Welt gekommen waren. Von seiner heutigen Hütte ist das eine knappe halbe Stunde Fußmarsch entfernt, auf einem schmalen Pfad den Hang hinunter. Don Tomás hält immer wieder an, zeigt auf Leguane, die sich auf einem Felsbrocken sonnen. Er erklärt, wie man sie fängt und eine Suppe daraus bereitet. Er reißt Kräuter ab, die man als Gewürz dazutun kann, und warnt vor anderen, die giftig sind. Er geht diesen Weg jeden Tag: Das kleine Maisfeld, das er gepachtet hat, liegt auf der anderen Seite des Tals.

Die Soldaten sollen alle Dorfbewohner ermorden. Auch die Kinder. Weil ein Soldat das nicht kann, dürfen María Delia und ihre drei Geschwister weiterleben

In der Talsohle stürzt ein Bach über einen schattigen Felsen und kühlt die Luft. Ein paar Meter weiter steht die Ruine des Elternhauses von María Delia. Man kann den Grundriss noch erkennen, Don Tomás zeigt, wo die Küche war, wo sie geschlafen haben und auch die Stelle, wo María Delia zur Welt kam. Der Mangobaum vor der Ruine sei damals noch nicht so hoch gewesen, erzählt er. „Als das Haus im Krieg leer stand, kamen Soldaten und haben die Dachziegel klein geschlagen.“ Wasser drang ein, die Lehmwände weichten auf und stürzten ein.

Er hat das Haus nach dem Krieg nicht mehr aufgebaut. Weiter oben am Hang, wo seine neue Hütte steht, gibt es Strom. „Nur für das Wasser müssen wir in der Trockenzeit sehr weit gehen.“

María Delia war das dritte seiner verlorenen Kinder, das Don Tomás in El Cerrón besucht hat. Alle vier hat Pro-Búsqueda wiedergefunden: José Fredy und Santos Catalina sind von einem Paar aus den USA adoptiert worden, Elizabeth war immer in El Salvador geblieben. Damals im Krieg dachte er, er würde seine Kinder nie wieder sehen.

Als die Soldaten abgezogen waren, ging er wieder auf den Berg, wo er seine Familie zurückgelassen hatte. „Ich habe schon unterwegs viele Leichen gesehen und auch im Lager waren nur Tote.“ Alle Erwachsenen. Die Soldaten hatten die Leichen verbrannt. Dass auch seine Frau darunter war, erkannte Don Tomás an Resten ihrer Kleider. Von den Kindern fehlte jede Spur. „Ich suchte die ganze Gegend ab“, erzählt er. „Manchmal hängten die Soldaten Kinderleichen zur Abschreckung an Bäume.“ Als er nichts fand, begann er zu hoffen.

„Heute weiß ich, dass es allen gut geht“, sagt er. „Sie sind zu guten Menschen gekommen.“ Don Tomás besitzt ein ausgebleichtes T-Shirt und eine hundertmal geflickte Hose zum Arbeiten und ein Hemd und eine Hose ohne Flicken für Festtage. In guten Jahren füllt er drei kleine Blechsilos mit Mais und holt vier Säcke Bohnen vom Feld. Die Hälfte davon verbraucht die Familie. Für die andere Hälfte bekommt er auf dem Markt vielleicht 200 Dollar. Mehr Einkommen hat die Familie nicht. „Ich kann mit der Machete umgehen, mehr kann ich nicht“, sagt er. „Aber alle meine verlorenen Kinder haben einen Beruf gelernt. Das hätte ich ihnen nicht bieten können.“

Für María Delia blieb El Cerrón eine fremde Welt. „Ich kenne diesen Mann jetzt“, sagt sie. „Aber eine richtige Beziehung ist das nicht.“ Und doch spürt sie so etwas wie Verantwortung, vielleicht auch, weil sie in einem reichen Land leben kann. „Auch wenn meine Geschichte mit einem Verbrechen begann – für mich war es auch Glück“, sagt sie. Und dann, ganz leise: „Ich kann doch nichts dafür.“

Toni Keppeler, 58, berichtet seit 25 Jahren aus Lateinamerika