Ein Gefangener seiner Grabrede

Zentralrat der Juden fordert Rücktritt Oettingers, Grüne gehen auf Distanz

Der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger hat mit einem offenen Brief auf die Kritik an der Trauerrede zu seinem Vorgänger Hans Filbinger reagiert. Der Wortlaut:

„Sehr geehrte Damen und Herren, Ihre Reaktion auf meine Trauerrede für Hans Filbinger bewegt mich, und ich nehme Ihre Kritik sehr ernst. Deshalb will ich Ihnen heute schriftlich antworten und diese Antwort auch der Öffentlichkeit zugänglich machen. Meine Rede im Freiburger Münster habe ich im Rahmen eines Requiems mit anschließendem Staatsakt des Landes aus Anlass des Todes von Hans Filbinger gehalten. Die Rede war in erster Linie an die Familie des Verstorbenen und an die Trauergemeinde, darunter eine große Zahl von langjährigen Freunden und Weggefährten, gerichtet. Es gehört in unserem Kulturkreis zu den üblichen und angemessenen Gepflogenheiten einer Traueransprache, Verdienste und das Lebenswerk des Verstorbenen positiv zu würdigen und ihm die schwierigen Phasen seines Lebens – ohne sie zu verschweigen – nicht nachzutragen. In Teilen der Öffentlichkeit wird mir vorgeworfen, dass ich durch meine Ausführungen zum Leben des Verstorbenen die schreckliche Nazidiktatur in irgendeiner Weise relativieren wollte. Dies entspricht nicht meiner inneren Haltung und auch nicht der Intention meiner Rede. Ein solcher Eindruck war von mir in keiner Weise gewollt. Soweit Missverständnisse in dieser Hinsicht entstanden sind, bedauere ich dies ausdrücklich. Für die Landesregierung, für die CDU Baden-Württemberg und für meine Person war es immer und bleibt es eine Selbstverständlichkeit, dass wir uns zu unserer historischen Verantwortung bekennen. In unserem Land werden die Opfer des Dritten Reiches, der Widerstand gegen den Nationalsozialismus und die generelle Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nicht vergessen. Vorbilder für mich als christlichen Demokraten sind die Männer und Frauen des Widerstandes, wie zum Beispiel die Gebrüder Graf von Stauffenberg. Mit freundlichen Grüßen, gez. Günther H. Oettinger“ AFP

VON GEORG LÖWISCH
UND LUKAS WALLRAFF

Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger steckt in einer Zwickmühle: Einerseits ist am Wochenende sein Versuch gescheitert, mit einem bedauernden offenen Brief die Entrüstung um seine Filbinger-Grabrede unter Kontrolle zu kriegen. Andererseits will der CDU-Politiker seine Worte auch nicht widerrufen, weil dies die strammen Konservativen vergrätzen würde: Diese bejubeln die Rede für den früheren Ministerpräsidenten Hans Filbinger, der als Jurist im Nationalsozialismus an Todesurteilen mitwirkte.

In seinem Brief erklärt Oettinger, er bedaure, wenn die Rede zu Missverständnissen geführt habe. Es entspreche nicht seiner inneren Haltung, die Nazidiktatur zu relativieren. Seine Behauptung, Filbinger sei ein Gegner des NS-Regimes gewesen, nahm er aber nicht zurück, sondern erneuerte sie vielmehr gestern.

In der Berliner CDU-Führung hatte man nach dem Rüffel von Kanzlerin Angela Merkel für Oettinger vom Freitag gehofft, dass dieser seine Kritiker besänftigen würde. Wirklich wichtig, so hieß es, seien weniger die Reaktionen anderer Parteien, sondern die von NS-Opfer-Verbänden und des Zentralrats der Juden. Doch gerade diese brachte Oettinger nun noch mehr gegen sich auf.

Der Generalsekretär des Zentralrats, Stephan Kramer, sagte der taz: „Die Entschuldigungsversuche sind nicht nur ungenügend, sondern erschreckend: Sie bestätigen, dass Herr Oettinger ein Ministerpräsident des Revisionismus ist.“ Anfangs habe man Oettinger noch unterstellen können, er habe sich keine Gedanken gemacht. „In der Zwischenzeit muss man davon ausgehen, dass Herr Oettinger diese Wirkung erzielen wollte.“ Nachdem Oettinger Filbinger noch einmal als NS-Gegner bezeichnet habe, sei es für eine Entschuldigung zu spät. „Es kommen jetzt nur noch persönliche Konsequenzen in Frage: Oettinger muss zurücktreten.“

Vor der heutigen Präsidiumssitzung der CDU forderte SPD-Chef Kurt Beck die Kanzlerin zum Handeln auf. Oettinger habe sich „weit über die Grenze des Vertretbaren hinaus nach rechts außen verirrt“, so Beck im ZDF. „Die CDU muss dafür sorgen, dass er es in Ordnung bringt.“

Die CDU-Parteispitze trifft sich am Nachmittag in Berlin. Fordert Merkel weitere Erklärungen, Richtigstellungen, Entschuldigungen von Oettinger – oder lässt sie ihn in Ruhe? Wie verhalten sich CDU-Granden aus dem Südwesten wie Wolfgang Schäuble oder Volker Kauder, die beide bei der Trauerfeier Filbingers waren, aber seitdem öffentlich geschwiegen haben? Kritisieren sie jetzt Oettinger – oder Merkel? Oettinger selbst sah zumindest bis gestern Nachmittag offenbar keinen Anlass, nach Berlin zu kommen. Ein Regierungssprecher sagte der taz: „Herr Oettinger nimmt an den Feierlichkeiten zum Papst-Geburtstag in Rom teil. So ist es vorgesehen.“

In Baden-Württembergs CDU hat sich bisher niemand getraut, den Ministerpräsidenten öffentlich zu kritisieren. Dagegen lobte der CDU-Politiker Georg Brunnhuber die Grabrede sogar als „Meisterprüfung“ (siehe unten).

Die Grünen reiben sich die Augen, denn ausgerechnet mit jenem CDU-Landesverband hatten sie vor einem Jahr über eine Regierungskoalition gesprochen. Die CDU hatte sich dann jedoch für die FDP als Partnerin entschieden. Grünen-Landtagsfraktionschef Winfried Kretschmann sagte der taz, er sei vom Korpsgeist der CDU erschrocken. Die Politik dürfe sich nicht der Geschichte bemächtigen. „Es ist logisch, dass diese Sache Schwarz-Grün nicht gerade befördert.“ Der Grünen-Chef im Bundestag Fitz Kuhn sagte der taz: „Das belastet natürlich schon das Verhältnis zwischen den Grünen und der CDU in Baden-Württemberg.“ Landeschefin Petra Selg erklärte: „Wenn Günther Oettinger sich nicht korrigiert, hätte ich mit Schwarz-Grün ein Problem.“ Der Landtagsabgeordnete und grüne OB von Tübingen, Boris Palmer, sagte: „Für schwarz-grüne Gedankenspiele ist das ein massiver Rückschlag.“

Nach Ansicht Palmers hat Oettinger eigentlich „mit dem Nazi-Quatsch überhaupt nichts am Hut“. Es wäre eine Ironie der Geschichte, wenn so einer abtreten müsste, nur weil er die Traditionsbataillone seiner Partei bedienen müsse. Mit der stehenden Drohung, die FDP jederzeit gegen die Grünen austauschen zu können, hat Oettinger bisher seinen Koalitionspartner stets gefügig gemacht. In dieser Hinsicht hat ihm die Grabrede auch machtpolitisch bereits geschadet.