Widerruf im dritten Anlauf

Mit dem späten Satz „Ich halte meine Formulierung nicht aufrecht“ versucht Günther Oettinger seinen Hals zu retten

VON GEORG LÖWISCH
UND LUKAS WALLRAFF

Um die Mittagszeit hatten sie endlich eine Entscheidung im Staatsministerium in der Stuttgarter Villa Reitzenstein. Der Ministerpräsident fliegt nicht nach Rom. Er gratuliert nicht dem Papst zum Geburtstag. Er hält auch keine Rede. Vielmehr fliegt er nach Berlin, damit dort im CDU-Präsidium nicht ohne ihn über ihn verhandelt wird. Damit es nicht so aussieht, dass er sich drückt. Damit die Sache endlich ein Ende hat.

„Wäre er nach Rom gefahren, wären bei seiner Rückkehr die Schlösser ausgetauscht gewesen“, sagt ein baden-württembergischer CDU-Politiker am Montagnachmittag. Ein Regierungschef, der eine Krise auslöst und dann verreist, das wäre nicht so gut angekommen.

Letzte Woche hatten sie noch gedacht, dass das Thema vom Tisch ist nach den Osterferien. Es kam der Freitag, es kam der Samstag, der Sonntag und der Montag, und eigentlich hat Günther Oettinger den Fall Günther Oettinger mit jedem Tag nur schlimmer gemacht. Erst hat er gesagt, die Grabrede für Hans Filbinger sei ernst gemeint, dann bedauert, falls es Missverständnisse gegeben habe. Die Kritiker setzten nach, allen voran der Zentralrat der Juden. Es folgte eine Entschuldigung in der Bild, aber wieder konnte das nicht reichen, denn zurückgenommen hat er da immer noch nichts.

Dann, um halb vier, steht er auf dem Gehsteig vor dem Adenauer-Haus in Berlin. Er ist eine halbe Stunde zu spät angekommen und um ihn bildet sich eine Traube von Kameraleuten und Reportern, es sind dreimal so viele wie üblich. „Ich habe mich in der Bild-Zeitung in der heutigen Ausgabe entschuldigt“, sagt er. Er schaut, als ob er es bei einem kurzen Statement bewenden lassen will. „War Filbinger ein Gegner des NS-Regimes?“, rufen die Reporter. „Ich halte meine Formulierung nicht aufrecht.“ Ob das Verhältnis zu Merkel beschädigt sei? „Schaden habe ich mir, wenn, dann selbst zugefügt“, murmelt er.

Eigentlich hat sich Merkel vorher schon mit der Entschuldigung ohne Widerruf zufriedengegeben. Sie erwarte, sagt Merkel vor der Präsidiumssitzung, dass die Entschuldigung auch gehört werde. „Mit dieser Entschuldigung ist das geschehen, was auch mir am Herzen liegt: dass wir, wenn wir über die Zeit des Nationalsozialismus sprechen, auch die Perspektive der Opfer und der Verfolgten im Blick haben.“

Auch Roland Koch hat gesagt, mit der Entschuldigung sei die Sache in Ordnung. „Ich denke aber auch, das ist das, was dazu gesagt werden musste.“

Koch gehört wie Oettinger zum Andenpakt, in dem CDU-Männer sich einst versprochen haben, sich gegenseitig beizustehen. So viel hat dem Schwaben das in den letzten Tagen nicht gebracht. Wulff, Merz, von Beust – keiner hat ihn nach Merkels Rüge am Freitag in Schutz genommen, und Matthias Wissmann, sein alter Mentor, hat bei der Autoindustrie genug zu tun. Immerhin Annette Schavan, Merkels Verbündete Merkels und einst Oettingers Konkurrentin, hat die Rücktrittsforderungen zurückgewiesen. Jedoch hat sie auch gesagt, er habe „in seiner Trauerrede nicht haltbare Aussagen gemacht. Eine rasche Richtigstellung wäre gut gewesen.“

Schavan gehört zur CDU Baden-Württemberg. Gerade von dort hat Oettinger nicht viel Unterstützung erhalten. Ab und zu stärkt Landtagsfraktionschef Stefan Mappus dem Regierungschef den Rücken, der Landesgeneralsekretär Thomas Strobl verteidigt behutsam und erklärt die Angelegenheit für beendet. Sowohl vom Fraktionschef als auch vom Generalsekretär würde jedoch alles andere als Messerzücken verstanden werden.

Der Einzige, den Oettinger hat, ist Georg Brunnhuber, der Mann, der fand, die Grabrede für Hans Filbinger sei eine bestandene „Meisterprüfung“. Brunnhuber ist Vorsitzender von Baden-Württembergs CDU-Abgeordneten, aber von dort heißt es, er habe nicht für alle gesprochen. „Ich finde im Moment das Schweigen so brutal“, sagt der CDU-Mann aus dem Südwesten, der ungenannt bleiben will. „Da rennt einer in Friedenszeiten aufs Schlachtfeld und hinterher läuft bloß ein großer Zampano namens Brunnhuber. Kampftruppen sehen anders aus.“

Nach der Präsidiumssitzung in Berlin berichtet ein Teilnehmer, Merkel habe eingangs die Entschuldigung akzeptiert. Oettinger soll kurz, ruhig und bewegt gesprochen haben. Auch in der Sitzung habe er sich von dem Satz distanziert, in dem er den NS-Juristen Filbinger als NS-Gegner genannt hatte. Wer seine Biografie kenne, wisse, dass ihm eine Verharmlosung des Dritten Reiches fernliege, zitierte ihn das Präsidiumsmitglied. „Er hat es wirklich beendet.“

So schnell dürfte das nicht klappen. Ein Gesprächsangebot Oettingers hat der Zentralrat der Juden zurückgewiesen. Der Generalsekretär Stephan Kramer hat gestern im Rundfunk erklärt, durch die Filbinger-Affäre sei inzwischen ein solcher Flurschaden entstanden, dass es mit einer einfachen Entschuldigung nicht mehr getan sei. Oettingers Versuch, am rechten Rand zu fischen, habe dazu geführt, „dass sein Netz sozusagen jenseits des Randes hängen geblieben ist“, sagt Kramer. Jetzt sei die Frage: „Kappt er die Leine oder geht er mit seinem Netz unter?“

Die ständig neuen, völlig überarbeiteten Haltungen zu seiner Rede machen ihn auch im eigenen Landesverband zunehmend unglaubwürdig – bei den stramm Konservativen auf dem Land genauso wie bei den eher Liberalen in der Stadt. Er komme laufend mit Neuem, heißt es aus der CDU im Südwesten – und die Kritik gehe weiter: „Der Zentralrat ist nicht irgendwer.“

In Stuttgart werden die Christdemokraten registriert haben, wie Merkels Generalsekretär Ronald Pofalla Oettinger nach der Präsidiumssitzung geradezu gedemütigt hat. Auf der Pressekonferenz, Oettinger ist schon ins Auto gestiegen, plaudert Pofalla noch einmal ausführlich über „den Fehler, den er begangen hat“. Man habe seit der Trauerrede täglich mit dem Ministerpräsidenten telefoniert und ihn „über den Unterschied unserer Auffassungen immer wieder informiert“.

Oettingers Freunde in Stuttgart hoffen nun, dass endlich ein anderes innenpolitisches Thema auftaucht, das Politiker und Journalisten beschäftigt. In dieser Hinsicht dürfte es helfen, dass der Erzbischof Georg Kardinal Sterzinsky eine Andacht für Filbinger in Berlin „untersagt“ hat, wie er mitteilen ließ. Sterzinsky wolle verhindern, „dass der Gottesdienst missbraucht und missverstanden wird“. Ursprünglich sollte heute in der Sankt-Hedwigs-Kathedrale daran erinnert werden, dass Filbinger als NS-Richter den Berliner Priester Karl Heinz Möbius vor der Vollstreckung eines Todesurteils bewahrt habe. Es kam Kritik von allen Seiten, und der Bischof hat nicht drei Anläufe gebraucht. Er hat die Sache beendet.