Alle Widersprüche unter den Teppich gekehrt

AFGHANISTAN Aschraf Ghani wird neuer Präsident des geschundenen Landes, aber genaue Wahlergebnisse bleiben unter Verschluss. Der als solcher nicht genannte Wahlverlierer Abdullah Abdullah wird dafür das neu geschaffene Amt eines Premierministers bekleiden

Laut geleakten Angaben der Wahlkommission siegt Ghani mit 55 zu 45 Prozent

VON THOMAS RUTTIG

BERLIN taz | Ein Vierteljahr und sieben Tage nach der afghanischen Stichwahl vom 14. Juni um die Nachfolge Präsident Hamid Karsais hat Afghanistan nun ein Wahlergebnis, wenn auch ein merkwürdiges.

Der neue Präsident wird Aschraf Ghani heißen. Fest steht auch, dass Ghani einer Regierung der nationalen Einheit (RNE) vorstehen wird, an der sein Gegenspieler Abdullah Abdullah paritätisch beteiligt wird. Aber wie viele Stimmen Vorsprung Ghani vor seinem Gegenkandidaten hatte, bleibt ebenso ungesagt wie die Prozentanteile beider an den über acht Millionen Stimmen, die angeblich abgegeben worden waren.

Das hatte sich Abdullah ebenso ausbedungen, wie in den offiziellen Verlautbarungen nicht als „Wahlverlierer“ aufzutauchen. Nachdem Ghani bei der Stichwahl seinen Rückstand auf Abdullah aus der ersten Runde im April von 13 Prozent und fast 900.000 Stimmen in einen 13-Prozent-Vorsprung verwandelt und dabei seinen Stimmenzahl fast verdoppeln konnte, bezichtigte er Ghani der Fälschungen in „industriellem Ausmaß“. Er prangerte ein „betrügerisches Dreieck“ an, zu dem auch der von Karsai kontrollierte Staatsapparat und die ebenfalls von Karsai ernannte Wahlkommission gehörten. Daraufhin einigten sich beide auf ein sogenanntes Audit aller Stimmen der Stichwahl unter UN-Aufsicht. Aber auch dessen Ergebnis bleibt nun offenbar geheim. Allerdings veröffentlichte eine Kabuler Nachrichtenagentur angeblich aus der Wahlkommission geleakte Angaben, die von einem 55-zu-45-Prozent-Sieg Ghanis sprechen.

Dass die Wahlkommission gestern keine genauen Zahlen nannte, erspart Ghani auch, offiziell zugeben zu müssen, wie viele Stimmen für ihn ungültig erklärt wurden. Das waren wohl mehr als für Abdullah, dessen Anhänger vor allem in Nordafghanistan unter Ausnutzung örtlicher Machtpositionen ebenfalls die Voten manipuliert hatten. Dass Abdullah letztendlich Ghani als Präsidenten akzeptiert, zeigt aber, dass das Audit Ghanis Wahlsieg nicht infrage stellt.

In der neuen Einheitsregierung wird Abdullah oder jemand, den er benennt, Premierminister. Der heißt aber nicht so, weil das Amt in der Verfassung bisher nicht vorgesehen ist, sondern Chief Executive Officer, ein aus dem Businessbereich entlehnter Begriff.

Binnen zweier Jahre soll eine Loja Dschirga, eine Art verfassunggebende Versammlung, darüber entscheiden, ob die Neuerung erhalten bleiben und die Verfassung entsprechend geändert werden soll. In der Regierung werden beide Kandidaten die Mitglieder des Kabinetts sowie hochrangige Beamte in anderen Regierungsbehörden, im nationalen Sicherheitsrat und den Sicherheitskräften paritätisch und im Konsens besetzen. Damit erhält Afghanistan eine Doppelspitze, in der der Regierungschef aber letztlich „unter der Autorität des Präsidenten“ bleibt.

Auch der genaue Text des RNE-Abkommens wurde bisher nicht veröffentlicht. Die Unterzeichnung am Sonntagvormittag im Kabuler Präsidentenpalast in Anwesenheit des scheidenden langjährigen Präsidenten Hamid Karsai sowie der Granden der Nation – vor allem früherer Mudschaheddin-Führer und Geistlicher – vollzog sich eher nüchtern. Im Gegensatz dazu war der von US-Außenminister John Kerry und dem örtlichen UN-Sondergesandten, dem Slowaken Jan Kubic, vermittelte vorhergehende Verhandlungsprozess von einer Vielzahl von Umarmungen begleitet gewesen. Wie im afghanischen Fernsehen live zu sehen, sprach Karsai ein paar eher nichts sagende Worte, dann bat ein Zeremonienmeister die beiden Wahlkontrahenten auf das Podium, die wortlos und nur nach einer kurzen Umarmung ohne Lächeln den Pakt signierten – wohl ein Zeichen dafür, dass noch nicht alles in trockenen Tüchern ist. Neben der dringenden Überarbeitung des Wahlrechts bleiben die Konturen weiterer Reformvorhaben, die über die Legalisierung der Machtteilung hinausgehen, blass.

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