Wehret dem Weckruf!

Sobald der Wecker zum ersten Mal klingelt, befindest du dich wieder in der Welt der Zwänge. Aber warum muss das immer so früh sein? Plädoyer für einen der herrlichsten Genüsse überhaupt: das Liegenbleiben

Welche Funktionen Schlaf eigentlich genau hat, ist immer noch nicht vollständig geklärt. Auf jeden Fall dürfte die Organisation von Erlebnissen und Erinnerungen im Gehirn, die auch in Träumen ihren Ausdruck findet, eine wichtige Rolle spielen.

Sicher ist, dass längerer Schlafentzug der Gesundheit schadet und auf Dauer zum Tod führen wird. Schlafentzug als Folterinstrument, wie ihn die USA in ihrem „Antiterrorkrieg“ praktizieren, hat eine lange Tradition.

Mit einer durchschnittlichen Schlafdauer von etwa sieben Stunden, wobei das individuelle Schlafbedürfnis bei Erwachsenen zwischen sechs und zehn Stunden schwankt, liegt der Mensch im Tierreich im Mittelfeld.

Die Kleine Taschenmaus bringt es fertig, zwanzig Stunden täglich zu schlafen, die Giraffe braucht nur zwei Stunden. Selbst Fruchtfliegen schlafen – zehn Stunden am Tag, während denen sie vermutlich von reifen Erdbeeren träumen. DFK

VON DAVID FISCHER-KERLI

Du solltest langsam aufstehen.

Du solltest langsam wirklich aufstehen.

Selbst wenn du das nicht bereits wüsstest, würde dich das elektronische Fiepsen deines Weckers unmissverständlich daran erinnern. Dein System läuft größtenteils noch im Standby-Modus, trotzdem lässt dein verklebtes Gehirn bereits eine rudimentäre Bestandsaufnahme zu. Die Welt teilt sich in zwei grundlegend unterschiedliche Bereiche: außerhalb des Bettes – kalt, dunkel, tausend Dinge, die erledigt werden sollten; unter der Bettdecke dagegen – warm und gemütlich, wohlig, und außerdem wartet hier noch der Rest deines unterbrochenen Traums. Alles, was du tun musst, um in dieser Welt der Wonne und Glückseligkeit bleiben zu dürfen: die Snooze-Taste drücken. Ein weiteres Mal.

Es ist kaum abzuschätzen, wie viel Gutes die Snooze-Taste über die Menschheit gebracht hat, schenkt sie ihr doch einen der herrlichsten Genüsse überhaupt: das Liegenbleiben. Die Taste bleibt dennoch eine höchst zwiespältige Einrichtung, denn das trügerische Glück, das sie schenkt, ist nur für wenige Minuten erkauft – auf Pump. Irgendwann lässt sich der Moment des Aufstehens nicht weiter hinauszögern, und du raffst dich auf ins feindliche Leben mit dem morgendlichen Stoßseufzer aller Werktätigen: Es hilft ja doch alles nichts. Die Selbstbestimmtheit, die die Snooze-Taste ermöglicht, ist Illusion; sie gaukelt dir nur vor, durch deine Handlungen ließe sich tatsächlich etwas ändern. Du drückst trotzdem drauf. Du gehst ja auch wählen.

Tatsächlich befindest du dich, sobald dein Wecker zum ersten Mal klingelt, in der Welt der Zwänge. Einen Tag blaumachen oder morgens wieder wegdämmern in ein Reich ohne Verantwortung und Pflichten ist keine Flucht auf Dauer. Die Menschheit hat sich irgendwann dagegen entschieden, auf den Bäumen zu leben und sich von den Dingen zu ernähren, die in der Nähe des Mundes wachsen. Sie will Autos, iPods und Couchgarnituren, sie braucht ein Dach über dem Kopf und mindestens eine Mahlzeit täglich. Und jenseits der Bäume wird es kompliziert. Zu den unzähligen Vorschriften und Regeln, die das durchorganisierte Zusammenleben mit sich bringt, gehört leider auch diese: Geschenkt wird einem nichts. Ein staatlich garantiertes Bürgereinkommen liegt noch in weiter Ferne, Hartz IV macht auch nicht gerade sorglos, und von den Zinsen eines ererbten Vermögens zu leben ist nicht jedem vergönnt. Für alle anderen heißt es: aufstehen. Arbeiten. Aber warum muss das immer so früh sein?

Fluch der Flexibilisierung: Wo die einen später kommen möchten, müssen die anderen länger arbeiten

In der Gesellschaft zu funktionieren heißt auch, nicht autonom über die eigene Zeit verfügen zu können. Das ist es, was bereits die Schule neben Lesen und Schreiben vor allem lehrt. Das Leben eines Schulkindes wird strukturiert vom Wechsel zwischen Schulwochen und Ferien, zwischen Schule und Freizeit, und auch an den freien Nachmittagen muss Zeit für die Hausaufgaben eingeplant werden. Richtig komplett wird die Lektion aber erst durch das allmorgendliche Aufstehen – zu einer Uhrzeit, die für den biologischen Rhythmus Heranwachsender noch mitten in der Nacht liegt. Seit längerem predigen Wissenschaftler erfolglos, dass zum hierzulande üblichen Schulbeginn von acht Uhr oder früher die Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit der Schüler immer noch im Tief liegt, und zwar unabhängig davon, wie früh sie ins Bett gegangen sind. Kein Wunder, dass der Beginn des Tages für viele Kinder der reinste Horror ist. Dieser Eindruck bereitet sie dann auch gleich fürs Leben vor.

„Warum müssen eigentlich fast alle Leute, die in einer Anstalt untergebracht sind, früh aufstehen?“, fragt Kurt Tucholsky und gibt die Antwort: Es ist „der Geltungsdrang der leitenden Herren, der sich da austobt“. Das gilt auch außerhalb von Gefängnissen, Krankenhäusern und Kasernen, denn es ist das „Stigma aller Unterdrückten: früh aufstehn zu müssen“. Aus der Perspektive eines Langschläfers muss die ganze Welt als Zwangsanstalt erscheinen.

Gerüchteweise hört man immer wieder von Menschen, die noch vor dem ersten Klingeln des Weckers munter aus dem Bett springen, wahrscheinlich direkt unter eine kalte Dusche. Was sind das für Leute? Wie leben sie? Eine fremde, seltsame Welt. Chronobiologen, die sich mit den zeitlichen Abläufen in Organismen beschäftigen, unterscheiden verschiedene genetisch und entwicklungsphysiologisch festgelegte Typen innerer Uhren. Weniger als zehn Prozent der Bevölkerung sind demnach extreme Frühaufsteher oder „Lerchen“, noch mal zehn Prozent ausgesprochene Nachtmenschen („Eulen“), die überwiegende Mehrheit aber Mischtypen, die mit dem vorherrschenden Tagesrhythmus halbwegs gut zurechtkommen. Damit ist nicht gesagt, dass diese achtzig Prozent am Morgen nicht auch noch gerne ein bisschen länger liegen bleiben würden. Langschläfer haben allerdings einen schlechten Ruf als disziplinlose Gesellen mit losem Lebenswandel – ganz gleich, ob sie bis vier Uhr nachts gearbeitet haben. Freilich dürfte in die moralische Geringschätzung auch Neid hineinspielen: gegenüber denen, die sich ein solches Leben leisten können.

„Morgenstund hat Gold im Mund“, versucht das gesunde Volksempfinden den Rhythmus der Langschläfer madig zu machen – ungeachtet dessen, dass im Mund eines soeben Erwachten vor allem schlechte Gerüche wohnen. Letztlich wohl ein Relikt aus agrarisch geprägten Zeiten, als der Tag begann, wenn der Hahn krähte und die Kuh gemolken werden wollte. Schon in der Bibel lassen sich diverse Stellen finden, wo vorzeitig aufgestanden wird. Der chinesische Prediger Watchman Nee hat sie alle akribisch zusammengetragen, um zu beweisen: Nur Frühaufsteher sind gute Christenmenschen, denn „wer es wählt, das Bett mehr zu lieben, schläft länger; wer es aber wählt, den Herrn mehr zu lieben, wird ein wenig früher aufstehen“. Von hier aus führt eine direkte Linie zur protestantischen Ethik des disziplinierten Lebens: Verschwendung ist des Teufels, also vertrödle keine Zeit! Nee wurde übrigens von den chinesischen Behörden nicht nur wegen „konterrevolutionärer Tätigkeit“ zwanzig Jahre lang eingebuchtet, sondern auch wegen „ausschweifenden Lebens“. Offenbar hat er seinen Meister gefunden, was Disziplin betrifft.

In der Gesellschaft zu funktionieren heißt auch, nicht über die eigene Zeit verfügen zu können

Im Netz finden sich anrührende Erfahrungsberichte von Menschen, die endlich Frühaufsteher sein möchten, so wie andere Nichtraucher werden wollen oder wegkommen vom Alkohol. Sicher ist es schön, mehr Freizeit am Nachmittag zu haben und das Tageslicht auszunutzen. Die Internalisierung der Zwänge einer morgenmuffelfeindlichen Welt erzeugt aber darüber hinaus Scham über abweichendes Verhalten; wer zur Mittagszeit vom Telefon geweckt wird, wird in der Regel vorgeben, er sei bereits seit Stunden wach – eine nicht ganz einfache Übung. Auch ohne moralische Aufladung frühen Aufstehens ist schlecht integriert, wer Mühe hat, zeitig aus dem Bett zu kommen, denn das erschwert die Koordination mit den zeitlichen Abläufen der Normalbevölkerung. Man kann dieses Anderssein natürlich zur Frage des Lebensstils erklären und sich in der Rolle eines Bohemiens gefallen. Auch der verhinderte Kunstmaler Hitler war im Führerbunker selten vormittags auf den Beinen. Wer aber nicht zufällig Diktator ist oder reich oder Künstler oder wenigstens Freiberufler, hat ein Problem. Gegen den permanenten „sozialen Jetlag“ von Langschläfern helfen: Koffein, Zucker und Nikotin. Über 60 Prozent der „Eulen“ sind Raucher, aber nur zehn Prozent der „Lerchen“. Vielleicht liegt es am Lebensstil. Vielleicht liegt es am Kreislauf.

Immerhin: Auch Langschläfer sind nicht alleine. Es lebe die Differenz! Mut zum Anderssein beweist in Dänemark der Club der „B-Menschen“ und hierzulande der Verein „Delta t“, der für die Anerkennung einer gegenüber der Normalzeit verschobenen „Zweitnormalität“ kämpft; mit Humor, aber ernst in der Sache. Gefordert werden flexiblere Arbeitszeiten, eine Anpassung der Schulzeiten und humanere Öffnungszeiten öffentlicher Einrichtungen. Ein zweischneidiges Schwert: Wo die einen später kommen möchten, müssen die anderen länger arbeiten. Der Trend zu einer 24-Stunden-Gesellschaft mit Konsum rund um die Uhr, globaler Arbeitsverteilung quer durch die verschiedenen Zeitzonen und flexibilisierter Just-in-Time-Produktion bedeutet ja auch, dass alle Zeit des Tages (und der Woche) zur potenziellen Arbeitszeit wird. Je mehr die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit verwischt wird, desto weniger bleibt übrig von der Autonomie der Zeiteinteilung – und vom Leben. Ohne jede Strukturierung der Zeit geht der Mensch im Strudel einer ständig mehr fordernden Ökonomie völlig verloren. Schichtarbeiter können ein Lied davon singen.

Gibt es Hoffnung? Selbst im schönsten Kommunismus, wo jedermann morgens Jäger und mittags Fischer sein kann, ist es nicht vorgesehen, morgens einfach gar nichts zu machen. Wie lautet doch der Kampfruf der Arbeiterbewegung? „Aufstehn“! Es gibt kein Entkommen. Tröste dich – gegenüber den Arbeitszeiten im Frühkapitalismus oder den Sweatshops der Dritten Welt bist du noch ganz gut bedient. Also erinnerst du dich: Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit, gehorchst und kriechst aus dem Bett. Heute Nacht darfst du ja wieder ein bisschen träumen. Und morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.