Krank durch Arztpfusch

Falschdiagnosen, Fehlbehandlungen und Fahrlässigkeit gehören zum medizinischen Alltag. Geschädigte Patienten und die Hinterbliebenen von Medizintoten, die Schadensausgleich fordern, stecken allerdings oft in einer regelrechten Nachweisfalle

Eine umfassende Statistik über ärztliche Behandlungsfehler gibt es nicht. Einige Experten vermuten gar, dass bis zu eine Million Patienten jährlich falsch behandelt werden – bei insgesamt rund 36 Millionen Operationen und ärztlichen Behandlungen. Jedoch nur 40.000 Patienten versuchen Schadensersatz zu bekommen. Ein Viertel zieht gleich vor Gericht. Ein Viertel einigt sich direkt mit der Haftpflichtversicherung. Rund 10.000 Fälle landen bei den Medizinischen Diensten der Krankenkassen. Und die restlichen 10.000 Patienten suchen Hilfe bei den Schlichtungsstellen der Landesärztekammern – dort werden noch nicht einmal 30 Prozent der Fälle zu Gunsten der Patienten entschieden. WLF

VON GISELA SONNENBURG

Als Peter Bergmann, damals Chefkoch eines schicken Weinlokals in Münster, aus dem Krankenhaus nach Hause kam, dachte er, er hätte eine neue Plattensammlung. Nur langsam dämmerte ihm, dass es sich mit den Vinylscheiben wie mit seiner Ehefrau verhielt: Auch sie hatte er zunächst einfach nicht erkannt. Dinge wie Uhrlesen, Schreiben, Raumorientierung musste er mühsam neu lernen. An eine geregelte Arbeit war nicht mehr zu denken – Bergmann ist schwer behindert, bei wechselnder Kondition. Aber erst sechs Jahre nach der verhängnisvollen Operation wurde ihm endlich eine Erwerbsunfähigkeitsrente zugestanden.

Die wird in Bergmanns Augen vom falschen Versicherer gezahlt, nämlich nicht von dem des Krankenhauses. Der zahlte nach einem gerichtlichen Vergleich lediglich 25.000 Euro. Dabei entspricht Bergmanns Unglück keineswegs „schicksalhaftem Verlauf“, der zutrifft, wenn die ärztliche Kunst an ihre Grenzen gerät. Bergmann wurde Opfer einer schier unglaublichen Pfuscherei: Der vermeintliche Hirntumor, an dem er operiert werden sollte, war gar keiner, sondern nur eine Gefäßerweiterung. Zudem hatte man seinen Schädel an der falschen Stelle geöffnet, um ein kleines Stück gesundes Hirngewebe zu entnehmen. Der histologische Befund verzeichnet „regelrecht aufgebautes Hirngewebe“, die CT-Bilder sind eindeutig.

Bis ein Professor das merkte und attestierte, gingen Jahre ins Land. Denn um Kollegen Fehler nachzuweisen, muss ein Arzt mutig sein. Fehler zuzugeben, ist verpönt, hinzu kommen Ängste vor strafrechtlicher Verfolgung – auch wenn die ohnehin meist ergebnislos endet. Der Korpsgeist innerhalb der Zunft ist dennoch so stark, als gelte es, ominöse Betriebsgeheimnisse zu wahren – auch dem Pflegepersonal wird überzogene Loyalität abverlangt. Wer mangelhafte Zustände oder gar Arztpfusch in einer Klinik kritisiert, riskiert seinen Job: Arbeitsrechtlich sieht es schlecht aus für Whistleblower.

So werden Patienten gerade unterm Diktum des Sparens zu Opfern. Christian Zimmermann, Präsident vom Patientenverband und selbst Arzt, ist immer wieder entsetzt. Für ihn beginnt die Problematik tief im Gefüge der Medizin, bei der Ausbildung: „Den Studenten wird vermittelt, alles sei immerzu bestens, und wenn mal was schief gehe, dann sei eben nichts zu machen gewesen.“ Dass auch Ärzte nicht perfekt sind, weder in fachlicher noch in moralischer Hinsicht, wird tabuisiert: „Wer aufmuckt, gilt als Nestbeschmutzer.“ Die Hörigkeit im „Chefarzt-System“ erschwert Aufklärung – auch vor Gericht. Dort verlässt man sich gern auf Gutachter, die häufig auch noch Ärztefunktionäre sind. Und während sonst die Sachverständigen die Richter mit Argumenten überzeugen müssen, herrscht bei medizinischen Fragen oft eine blinde Akzeptanz.

Niels Auhagen, Berliner Allgemeinarzt und einer der wenigen, die gegen Kunstfehler zu Felde ziehen, erlebte mal, dass es Gutachter und Richter für okay befanden, dass nach einer Nasenoperation Hirnwasser aus der Nase austrat. Aber auch simple Falschdiagnosen und Fehlbehandlungen können Folgeschäden haben: wenn eine Krankheit verschleppt wird oder die Nebenwirkungen der Falschbehandlung krankheitsbildend sind. Auhagen rät dann, für etwa 400 Euro ein ärztliches Privatgutachten einzuholen, das den Fehler feststellt. Damit kann man sich an die Versicherung des Arztes oder der Klinik wenden – und verhandeln. Streitwerte unter tausend Euro werden oft zügig beglichen.

Beträgt der Schaden aber tausende oder gar hunderttausende Euro, gehen Arztversicherer meist vor Gericht. Der ADAC veröffentlicht mit dem Buch „Schmerzensgeld Beträge“ Präzedenzen: Ein Jochbeinbruch bringt mal gerade 1.500 Euro, eine bleibende Lähmung neben einer Festsumme eine nur geringe Rente. Ein aktuelles Urteil gesteht einer Klägerin immerhin 7.000 Euro für jahrelangen Zahnarztpfusch zu.

Spektakulär ist ein Fall vom Landgericht Marburg, das einem Kläger 250.000 Euro zusprach, weil er neun Jahre seiner Jugend zu Unrecht in psychiatrischen Kliniken verbrachte. Ein Arzt schrieb vom anderen ab, ohne den Patienten richtig zu untersuchen; die Medikation mit Neuroleptika machte aus dem jungen Mann ein lebendes Wrack.

Mehr als 100.000 Zwangseinweisungen gibt es jährlich in Deutschland – laut dem Göttinger Professor Peter Müller ist ein erheblicher Anteil unrechtmäßig. Oft werden ältere Erblasser in Psychiatrien abgeschoben. Aber auch junge Leute werden mit stationär einheitlichen Standarddiagnosen entmündigt und ohne Rechtshilfe weggesperrt. Das Hauptrisiko, Opfer ärztlicher Fahrlässigkeit zu werden, liegt indes bei Operationen. Hier kann dann das Vertuschen eines Fehlers bereits tödlich sein. Und, was die Beweislage erschwert: „Ärzte können Akten frisieren“, sagt Zimmermann. Dann sitzen Patienten in der Nachweisfalle, wie auch viele Hinterbliebene der geschätzten 25.000 Medizintoten jährlich.

Infos: www.patienten-verband.de