Die doppelte Besatzung

Der Gazastreifen ist klein, so klein, dass viele Menschen Angst haben, offen zu reden: Sie sind wütend und vom Krieg traumatisiert, den sie nicht gewonnen haben. Trotzdem traut sich kaum jemand, die Hamas-Führung zu kritisieren

Die Hamas hat versucht, alles zu erreichen, und am Ende nichts erreicht

AUS GAZA FRANCESCA BORRI

50 Tage, 2.153 Tote, Schäden in Höhe von 7,8 Milliarden Dollar. Eine Menge an Sprengstoff, die der Atombombe gleichkommt, die Hiroshima ausgelöscht hat. Aber jetzt kehrt die Normalität zurück nach Gaza.

Aus der Leitung kommt Salzwasser, Meerwasser – schon lange gibt es kein Trinkwasser mehr. Deine Haut bleibt klebrig, den ganzen Tag, tagelang, jahrelang. Und in deinem Kopf, ständig, das Summen der Drohnen. So als würde man in einem Wespennest leben, in Gaza. Aber wenigstens musst du jetzt nicht mehr versuchen, den Granaten auszuweichen: Die größte Schwierigkeit besteht jetzt wieder darin, der Hamas auszuweichen.

Für die Jungs von der „Bewegung 15. März“, die versucht haben, 2011 einen palästinensischen Frühling in Gang zu bringen, und in einem seltenen Moment nationaler Einheit von der Hamas in Gaza und der Fatah in Ramallah niedergeknüppelt wurden, ist die Sache klar: Sie stehen unter „doppelter Besatzung“ – denn jetzt ist hier nicht mehr Israel an allem Schuld.

Öffentliche Hinrichtung

Die Hamas hat erst in aller Eile 18 angebliche Spione öffentlich hingerichtet und dann rund 300 Fatah-Kämpfer und verschiedene andere Gegner verhaftet. Jetzt haben alle Angst zu reden.

Und das ist kein Wunder: Der Gazastreifen ist so klein, dass es kaum möglich ist, Anonymität zu wahren; jedes Detail macht Menschen identifizierbar – das Kontakt-Netzwerk eines ausländischen Journalisten lässt sich innerhalb weniger Stunden bis zur Quelle zurückverfolgen.

Aber auch wenn Interviews unmöglich sind, die Stimmung hier ist unmissverständlich. Vom Gemüsehändler zum Taxifahrer, vom Sanitäter zum Studenten, sie alle liefern dir einen Satzteil, ein Fragment – und niemals spiegeln diese Fragmente die jüngsten Umfragen, wonach 94 Prozent der Palästinenser damit zufrieden sind, wie dieser Krieg geführt wurde, und 79 Prozent überzeugt sind, ihn gewonnen zu haben.

Der Waffenstillstand vom 26. August hat nicht viel mehr gebracht als eine teilweise Öffnung des Grenzübergangs Rafah, damit humanitäre Hilfsgüter und Baumaterialien von Ägypten aus nach Gaza gelangen können. Alle anderen Punkte wurden vertagt; sie sollen innerhalb eines Monats in einer Vereinbarung festgelegt werden. „Im Grunde haben wir in einem Krieg gekämpft, damit die Wunden versorgt werden können“, so fassen es die Leute zusammen.

Der Text der Vereinbarung ist nicht nur identisch mit der, die den Krieg 2012 beendet hat; sie ist auch identisch mit der, die Israel nach der ersten Woche der Luftangriffe vorgeschlagen hat. Als die Zahl der Toten bei einem Zwanzigstel der jetzigen lag. „Die Wahrheit ist, dass es als Krieg gegen Israel angefangen hat und zu einem Krieg zwischen Palästinensern geworden ist“, sagen sie. „Und jetzt ist es kein Krieg mehr zwischen Hamas und Fatah, sondern zwischen Splittergruppen der Hamas und Splittergruppen der Fatah. Zwischen einzelnen Persönlichkeiten.“

Die Rivalität zwischen Ministerpräsident Ismail Hanijeh und Mahmud as-Sahar, dem populärsten Führer der Hamas, reicht weit zurück – aber noch tiefer geht die Rivalität mit Chaled Meschal, der das Politbüro der Hamas leitet. Denn hier geht es um internationales Ansehen, also um die Wahl der Unterstützer und Geldgeber, für Meschal Katar, für andere der Iran. Und dann ist da noch die Rivalität zwischen dem militärischen und dem zivilen Flügel, und die innerhalb des militärischen Flügels: Es sieht so aus, als läge Mohammed Deif, Chef der Al-Kassam-Brigaden, von dem die Hamas hartnäckig erklärt, er sei noch am Leben, tot unter den Trümmern seines Hauses, und vermutlich waren es Männer der Hamas, die Israel seinen Aufenthaltsort verraten haben.

„Und wen haben sie gerufen, um zu vermitteln? Ägypten. Wobei General Sisis einziges Interesse darin besteht, sich unentbehrlich zu machen: Damit die Welt vergisst, dass er bloß ein Diktator ist. Alles andere als unparteiisch. Brauchte es wirklich einen Krieg, um die Grenze wieder zu öffnen? Ägypten wird nicht von Raketen beschossen. Warum hat er sie geschlossen?“

Ein realistisches Ziel?

Laut UN wird es 18 Jahre dauern, bis Gaza wieder aufgebaut ist. 18 Jahre, damit 70 Prozent der Palästinenser das Existenzminimum wieder erreichen. Bis jetzt ist das die einzige sichere Folge des Krieges.

Die Frustration und die unterschwellige Wut sind groß, auch weil das Ende der Blockade im ständigen Hagel der Raketen wie ein realistisches Ziel aussah. Seit sieben Jahren sind die Grenzen geschlossen. Aber die Hamas hat versucht, alles zu erreichen, und am Ende nichts erreicht. Aus völlig vorhersehbaren Gründen: 4.000 Raketen haben sie verschossen, 3.000 wurden zerstört, 2.000 sind übrig, alles Kurzstreckenraketen. Netanjahu hat, wenig beachtet, angekündigt, dass er nicht einmal nach Kairo reisen wird. Er weiß, dass die Welt im Moment woanders hinschaut.

Die Überzeugung der Hamas, dass die Israelis nur dann ernsthaft verhandeln werden, wenn sie sich unsicher fühlen, teilen viele Palästinenser. „Aber Raketen alleine bringen nichts“, präzisieren sie sogleich. Die explosive Wucht einer F16 beträgt 6.800 Kilo; die einer gewöhnlichen Rakete nur neun. „Raketen sind sinnvoll, wenn sie einer politischen Strategie dienen. Aber es gibt keine. Wir sagen uns immer wieder: Existieren bedeutet Widerstehen. Unsere Art des Widerstands besteht darin, hierzubleiben: den Widrigkeiten zum Trotz. Nicht weggehen. Aber was ist der Preis? Es gibt eine ganze Generation, die nichts kennt, außer Gaza. Eine Generation, die nichts kennt, außer einer paar Straßen, Gewalt, Armut, Hunger. Die Kinder sagen zu dir: Ich bin fünf Jahre und drei Kriege alt. Wie sollen die gegen die komplexen Methoden der Besatzung kämpfen?“

Entgegen allem Anschein setzt Israel nicht auf militärische Macht, sondern auf bürokratisches Prozedere. Der Grenzübergang Karni zum Beispiel, der dem Gütertransport vorbehalten ist, blieb sogar während des Kriegs geöffnet. Nur für ein paar Stunden, freilich, „aber das Problem ist ein anderes“, erklären sie in der Al-Awda-Fabrik, 600 Angestellte und 125 unterschiedliche Keks- und Snacksorten – jetzt alles Schutt und Asche. „Das Problem ist der Dschungel der Genehmigungen, der den Zeitaufwand hochtreibt, und damit die Kosten. Die Blockade ist sehr viel komplexer als ein geschlossenes Tor“, sagt Mohammed al-Talbani, der Inhaber.

Am brisantesten ist die Geschichte mit dem Internationalen Strafgerichtshof. Seit Jahren haben die Palästinenser keinen Zweifel: Das einzige, wovor sich Israel wirklich fürchtet, wäre ein Prozess in Den Haag. Aber auch die Hamas hat Angst, dort auf der Anklagebank zu landen, und Mahmud Abbas wiederum bangt um die Unterstützung der Vereinigten Staaten, die den Strafgerichtshof nicht gerade mögen. Sie hatten ihn bloß einschalten wollen, um beim Waffenstillstand nicht ohne Druckmittel dazustehen. Aber die Klage, stellte sich später heraus, war von einem einfachen Anwalt unterzeichnet worden. Und damit nichtig.

Während Hamas und Fatah nationale Einheitsregierungen bilden und wieder scheitern lassen, sind sich die Palästinenser einig: „Wir treiben ziellos umher.“ Der Legislativrat hat seit 2007 nicht mehr getagt. Das Mandat von Präsident Mahmud Abbas ist 2010 ausgelaufen. Doch der Zorn richtet sich nicht nur gegen Hamas und Fatah. Im Westjordanland war die Solidarität mit Gaza minimal ausgeprägt. Decken, Wasser für die Flüchtlinge, kaum mehr. Humanitäre, keine politische Unterstützung. Am 9. August waren die Straßen in aller Welt gefüllt mit Menschen, die aus Solidarität mit Gaza protestierten: 150.000 in London, 250.000 in Kapstadt – und kaum 100 in Ramallah. Die Distanz zum Westjordanland ist keine Frage der Geographie.

An Stelle von Raketen hat Mahmud Abbas den Weg des Staatsaufbaus gewählt, im wörtlichen Sinne: Stein auf Stein. Dank der Spenden, die 70 Prozent des Haushalts der Palästinensischen Autonomiebehörde decken, ist es in Ramallah leicht, einen Kredit zu bekommen und damit ein Café oder einen Laden zu eröffnen. „Und jetzt haben sie Angst, dass bei einer neuen Intifada Kratzer an ihr neues Auto kommen“, kommentiert Abu Yazan, einer der Gründer der Bewegung 15. März, sarkastisch.

Letztlich sind Hamas und Fatah gar nicht so unterschiedlich, und beide regieren mittels der öffentlichen Bediensteten. Fast alle Palästinenser sind abhängig von einem Verwandten, der als Beamter arbeitet, im Gazastreifen ebenso wie im Westjordanland. So funktioniert das schon seit Ewigkeiten, so lassen sich am wirksamsten Rückhalt und Loyalität sichern. Wie es aussieht, waren auch ihre finanziellen Probleme der einzige Grund, der aus Sicht der Hamas für eine nationale Einheitsregierung sprach: Weil sie ihre 40.000 Beschäftigten kaum noch bezahlen konnte. Sie waren angeheuert worden, um die Fatah-nahen Arbeitskräfte zu ersetzen (die weiterhin Gehalt beziehen), und kosten jeden Monat 25 Millionen Dollar. Die Hamas will, dass sie von der Palästinensischen Autonomiebehörde anerkannt und bezahlt werden.

70 Prozent des Haushaltes im Gazastreifen wird durch die Tunnel erwirtschaftet. Aber jetzt sind sie zu 90 Prozent nicht mehr benutzbar – „zerstört von Ägypten, nicht von Israel – vor dem Krieg“, erklären die Leute. Denn der Schmuggel ist legal in Gaza. Die Tunnel werden von einem Komitee verwaltet, mit zig Regeln und Steuern: 20 Schekel, 5 Dollar, für jede Tonne Zement, bei 3.000, die jeden Tag hereinkommen; 1,6 Schekel für jeden Liter Benzin, und jeden Tag passieren eine Million Liter.

Aber es reicht nicht. Aus Sicht der Palästinenser gehen die Zahlen nicht auf. „An Geldgebern fehlt es der Hamas nicht. Katar, Iran, Saudi-Arabien. Aber Priorität haben Waffen, nicht Wasser, Häuser, Elektrizität.“

Ein Grund für den Sieg der Hamas bei den Wahlen 2006 war die Ehrlichkeit, mit der sie sich abhob von der Korruption der Fatah. Und jetzt wird das Wasser aus dem Westjordanland für einen Dollar pro Flasche verkauft. Ähnlich verhält es sich mit den Tunneln, die es möglich machen, dass Gaza die Blockade übersteht. Aber auch, dass die Besitzer netto rund 100.000 Dollar im Monat erwirtschaften. Drinnen arbeiten und graben, wegen der Größe, Kinder. Als ein Tunnel einbrach, starben 160 von ihnen. Für junge Leute sind die Tunnel dennoch die einzige Hoffnung. Zuhauf stehen sie an den Eingängen. Nicht nur weil es die einzige Chance ist, etwas zu verdienen. Sie wollen sich nach Ägypten davonmachen. Und sich dort, in Alexandria, einschiffen, nach Europa.

Der Waffenstillstand endet am 25. September. Bei Sonnenaufgang ist es, einstweilen, wieder schön in Gaza. Es gibt dieses bescheidene Stück See, mit den Holzbooten der Fischer, den Netzen, dem rauen Sand. Es ist das Mittelmeer ohne Lichter, ohne Touristen, wo man von Tag zu Tag lebt, dicht an dicht, weil zu existieren Widerstand bedeutet, sonst nichts, und während du läufst, hier, auf diesem fahlen Sand, mischt sich das Summen der Drohnen mit dem Rauschen der Wellen, und instinktiv trittst du in jemand anderes’ Fußstapfen – läufst über Sand und nicht-explodierte Minen.

Übersetzung aus dem Englischen: Gabriela Keller