Eingriff ins Innerste

Für die kommende documenta 12 hat ihr Leiter Roger M. Buergel die Schauräume komplett umbauen lassen. Vorab lud er zum Rundgang

Der Rückbau des Museums Fridericianum, dessen historische Raumstruktur freigelegt wurde, stellt die größte Überraschung dar

VON ILONA LEHNART

Auch sanfte Rebellen können Aufruhr stiften. „Den White Cube haben wir eliminiert“, klärte Roger M. Buergel, künstlerischer Leiter der documenta 12, mit unverhohlenem Vergnügen eine Hundertschaft von Journalisten auf. Und wer glaubte, Buergels Laune durch unbequeme Fragen trüben zu können, sah sich selbst spätestens in dem Augenblick fassungslos, in dem er das Museum Fridericianum betrat. Dabei hätte einem dämmern müssen, dass allein schon die harmlose Einladung zu einem Rundgang durch die Schauplätze der documenta hintergründige Absichten verfolgte. Denn nie zuvor in der Geschichte des großen Kasseler Kunst-Welttheaters wurde der Presse sechs Wochen vor der Eröffnung im Juni ein Einblick in die Schauräume gegönnt.

Möglich, dass Buergel weniger eine „Einstimmung“ im Sinn hatte als vorab schon einmal die Mechanismen der visuellen Überwältigung erproben wollte. Zum Beispiel, ob all die fantasievollen Effekte, die er gemeinsam mit seiner Ehefrau und Ko-Kuratorin Ruth Noack ersonnen hat, Wirkung zeigen: von der polychromen Orchestrierung der Räume bis hin zu üppigen Stoffdraperien vor Fenstern und samtig-roten Teppichböden auf dem nackten Estrich. Und, nicht zu vergessen, die Eingriffe ins Innerste der Baukörper selbst.

Mit dem Rückbau des Museums Fridericianum, dessen historische Raumstrukturen er freilegen ließ, dürfte Buergel die größte Überraschung gelungen sein. Seit dem Um- und Ausbau des kriegszerstörten Baukörpers in den Achtzigerjahren war dessen öde Raumkonzeption allen documenta-Machern ein Dorn im Auge gewesen. Keiner aber wagte es, die Hindernisse so gründlich aus dem Weg zu räumen, wie Buergel und der Hamburger Architekt Tim Hupe es nun unternommen haben.

Woher dieser Furor? Dieser obsessive Wunsch, über eine retrospektive Kehrtwende verlorene Formen und Strukturen wiederherzustellen? Liest man Buergels einführenden Essay im ersten Band der documenta Magazine, wird klar, dass er wie keiner seiner Vorgänger auf die geniale, nie wieder erreichte Ausstellungsregie Arnold Bodes rekurriert, des Gründungsvaters der documenta. Wie Bode greift er auf Materialien aus der Alltagskultur zurück: auf billige Ware, wie sie in jedem Baumarkt erhältlich ist, und auf knallige Farben und Stoffe, denen kein langes Leben vorauszusagen ist. Die Methode lautet, wie schon bei Bodes erster documenta von 1955, „Improvisation“. Eine eigenwillige Retro-Version, ein Protest gegen übliche Ausstellungsinszenierungen, eine sinnlich erfahrbare Institutionenkritik.

Die Gefahr ist groß, dass Buergel als Raumausstatter missverstanden wird, der sein Publikum in ein rauschhaft-polychromes Wohlfühlambiente à la Schöner Wohnen versetzt. In Wirklichkeit will er auf anderes hinaus: „Den Wurzeln galt der Blick“, schreibt er und meint die Ausgangspunkte einer Moderne, die, global gesehen, höchst divergente Facetten trägt. Den 1962 in Berlin Geborenen interessiert jedenfalls nicht der Ist-Stand der Gegenwartskunst. Worauf er hinauswill, ist, der „Genealogie des Gegenwärtigen“ nachzuspüren.

Leicht ist das nicht. Und Buergel wäre nicht der erste documenta-Macher, der seinen programmatischen Vorgaben hinterherhinkt. Was ihn umtreibt, ist eine „Ethik des Miteinanders“. Die Kunst soll es richten.

Zu sehen ist allerdings noch nichts: nur leere Räume, leere Wände. In Granitgrau, Apricotorange, Lichtgelb, Dunkellila, Flamingorosa. Vorhänge, durch die das milde blinkende Sonnenlicht atmosphärische Wärme suggeriert. Strahlen, die in die kleinen Kabinette der Neuen Galerie einfallen. Diese wurde erbaut zwischen 1869 und 1877 und im historisierenden Geschmack einer Epoche, die sich ihrer Möglichkeiten unsicher war.

Klar, dass unter solchen Prämissen der Wunsch nach absolut Neuem wuchs. Dass mit dem Vorhandenen, dem Überlieferten nicht auszukommen war. Dass Ausstellungsfläche gewonnen werden musste. Dass der Blick auf den großen, leeren Wiesengrund vor der Orangerie in der barocken Karlsaue fallen musste. Dass da Visionen entstanden, wie die Leere zu füllen sei – etwa mit einer Ausstellungsarchitektur, wie die Welt sie noch nicht gesehen hat. Ganz transparent, sodass sich durch die feine Membrane der Außenhaut aus Polycarbonat die Kunstwerke abzeichnen – so markant, dass Spaziergänger magisch ins Innere gezogen werden. Dass alles nur durch einen feinen Gazevorhang vor der wirklichen Welt, die die Kunst ja zu spiegeln vorgibt, getrennt werden sollte. Als gäbe es da keine Lux-Zahlen, die zur Konservierung lichtempfindlicher Kunstwerke zu beachten wären. Als gäbe es nicht die präzisen Vorgaben von Leihgebern und Versicherungen.

So kam es, dass aus der anfänglich dicken Freundschaft zwischen dem Wiener Paar Buergel und Noack und dem Pariser Architektenduo Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal plötzlich Feindschaft wurde. In dem neuen „Paragone“ hat sich Buergel entschlossen, der Kunst den Vorrang vor der Architektur zu geben. Schaun wir mal, wie es weitergeht.