Die zweite Demokratisierung

Seit der Bombardierung Gernikas 1937, selbst lange nach Francos Tod, hat der spanische Staat sich gegenüber dem Baskenland immer wieder auch terroristischer Mittel bedient

Raul Zelik ist Schriftsteller. Im Juni erscheint sein neuer Roman „Der bewaffnete Freund“ (Blumenbar Verlag), der die aktuellen politischen Konflikte in Spanien als Hintergrund hat. Zu empfehlen ist auch Gijs van Hensbergens „Guernica. Biographie eines Bildes“ (Siedler), das gerade erschienen ist.

Am 26. April 1937, genau vor 70 Jahren, zerstörten deutsche und italienische Bomber die baskische Ortschaft Gernika (auf Spanisch: Guernica). Die Bombardierung, mit der der systematische Angriff auf Zivilisten als Kriegsstrategie erprobt wurde, verwandelte sich – nicht zuletzt wegen Picassos gleichnamigen Gemäldes – in ein Symbol für den spanischen Bürgerkrieg und den Schrecken des Franco-Regimes.

Heute gelten die düsteren Jahrzehnte der Diktatur als überwunden. Die Transición, der Übergang zur Demokratie in den 1970er-Jahren, wird als Erfolgsstory interpretiert. Beeindruckende Wachstumsraten, die Autonomieregelungen für Katalonien und das Baskenland und die langjährige Regentschaft der sozialistischen Partei (PSOE) scheinen die geglückte Modernisierung zu belegen. Nur die Existenz der baskischen Terrorgruppe ETA, die auch nach dem Ende der Diktatur ihren bewaffneten Kampf fortsetzte und in den letzten 30 Jahren 800 Menschen getötet hat, trübt – so die verbreitete Lesart – die positive Bilanz.

Diese Geschichtserzählung unterschlägt jedoch eine ganze Reihe von Fakten. Sie ignoriert, dass die Transición dazu diente, einen politischen Bruch zu vermeiden. Sie versöhnte Besiegte mit Siegern – Repressionsopfer mit Tätern. Die alten Funktionäre in Justiz, Sicherheitsapparaten und zum Teil auch der Politik kamen straffrei davon und sorgten für Kontinuität. Der heutige Ehrenvorsitzende der Konservativen Manuel Fraga etwa gehörte zu den führenden Köpfen des Franco-Regimes. Selbst König Juan Carlos, die demokratische Lichtgestalt, war darin verstrickt. Franco ließ den König ausbilden und in sein Amt einsetzen.

Spanische Linksliberale haben in den vergangenen Jahren angefangen, diese Aspekte der Transición zu debattieren. Sie kritisieren, dass der Demokratisierungsprozess der Rechten nicht sehr weit fortgeschritten sei. Tatsächlich werden auf Demonstrationen der oppositionellen Konservativen (PP) ungeniert Fahnen der faschistischen Falange gezeigt und Parolen zur Hinrichtung von Ministerpräsident Zapatero gerufen – dessen Großvater von Francos Truppen erschossen wurde. Doch solche Kritik greift zu kurz.

Nicht nur die alte Rechte ist für die Demokratiedefizite Spaniens verantwortlich. Die PSOE hat die dubiose Kontinuität aktiv mitgestaltet. In ihrer Regierungszeit 1982–1996 unternahm sie nichts, um die alten Polizeikörper aufzulösen oder grundlegend zu verändern. Vielmehr setzte auch sie auf die repressive Karte, so etwa im Zusammenhang mit dem baskischen Konflikt. Die 1977, mitten in der Demokratisierung, aus den Reihen der Sicherheitsorgane aufgebauten Todesschwadronen wurden nach der Amtsübernahme der PSOE 1982 neu organisiert. Der damalige Innenminister José Barrionuevo ließ die „Antiterroristischen Befreiungsgruppen“ gründen, die in den 1980er-Jahren an die 40 Menschen töteten. Das letzte Opfer dieses schmutzigen Krieges war 1989 der Journalist Josu Muguruza.

In den 1990er-Jahren rückte Madrid von dieser Strategie ab, doch das Vorgehen der Staatsmacht blieb fragwürdig. Der Ermittlungsrichter Baltasar Garzón, zeitweise ebenfalls PSOE-Mitglied, leitete Dutzende von Verbotsverfahren gegen Organisationen und Medien der baskischen Linken ein. Garzón rechtfertigte die Verfahren mit den Verbindungen der Organisationen zur ETA. Das Argument ist nicht völlig aus der Luft gegriffen, doch es ist bezeichnend, dass sich die spanische Justiz anderen Formen der Gewalt längst nicht so entschlossen entgegenstellte. Ermittlungsrichter Garzón, der sich mit der Verfolgung Pinochets international profilierte, hat kein einziges Verfahren gegen die Verantwortlichen der Franco-Diktatur eingeleitet.

Zahlreiche linke baskische Organisationen sind weiterhin verboten

In Spanien erklärt man diesen Umstand mit der Amnestieregelung von 1976, die allerdings – wie lateinamerikanische Beispiele zeigen – durchaus revidierbar wäre. Dazu kommt, dass Verbrechen der Ermittlungsbehörden eigentlich immer ungesühnt bleiben. Menschenrechtsgruppen sprechen davon, dass Folter auf spanischen Polizeiwachen nach wie vor an der Tagesordnung ist. Opfer berichten von Schlägen, psychischen Misshandlungen und Schlafentzug, Vergewaltigung, „bolsa“ (mit Plastiktüten werden Menschen fast erstickt) und „bañera“ (Untertauchen in Badewannen).

Nicht nur die Konservativen, sondern auch die PSOE haben diese Praktiken gedeckt und ermöglicht. Sie haben das Kontaktsperregesetz verabschiedet, das es erlaubt, Gefangene fünf Tage lang von der Außenwelt zu isolieren. Weil die Inhaftierten in dieser Zeit keine Vertrauenspersonen sprechen können und die angewandten Praktiken so angelegt sind, dass sie keine sichtbaren Spuren hinterlassen, können die Misshandlungen vor Gericht nicht bewiesen werden.

Baskische Anti-Folter-Aktivisten sprechen von 7.000 Menschen, die im Baskenland seit Beginn der Demokratisierung gefoltert wurden. Das entspricht 0,2 Prozent der Bevölkerung. Von diesem politisch kalkulierten Einsatz des Schreckens erfährt die spanische Öffentlichkeit jedoch nichts. Foltervorwürfe werden stets als ETA-Propaganda abgetan. Dabei stammen die Berichte längst nicht nur von ETA-Militanten. Der Chefredakteur der linksliberalen Tageszeitung Egunkaria, Martxelo Otamendi, berichtete 2003 im baskischen Parlament, was ihm nach dem Verbot seiner Zeitung von der Guardia Civil angetan worden war.

Die Ermittlungen gegen seine Peiniger sind mittlerweile eingestellt – aus Mangel an Beweisen, wie immer. Dass die spanische und europäische Öffentlichkeit hiervon nichts weiß, ist ein Skandal und ein Hinweis darauf, dass die Berichterstattung über den baskischen Konflikt alles andere als objektiv ist. So auch wieder vor 14 Tagen: Als Folteropfer auf einer Pressekonferenz über erlittene Misshandlungen berichteten, war kein einziges spanischsprachiges Medium anwesend.

Auf Demonstrationen der Konservativen werden ungeniert Fahnen der faschistischen Falange gezeigt

Sicher: Spanien ist mit einer Ausnahmesituation konfrontiert, die ETA hat den Staat frontal herausgefordert. Das Erschießen von Gemeinderäten und an Flughäfen platzierte Autobomben haben mit Befreiungskampf nichts zu tun. Und doch muss die spanische Öffentlichkeit begreifen, dass auch ihr Staat für die Polarisierung der Gewalt im Baskenland Verantwortung trägt. Seit der Bombardierung Gernikas 1937 – und auch noch lange nach Francos Tod – hat er immer wieder auf Mittel zurückgegriffen, die man ebenfalls als terroristisch bezeichnen kann.

Heute besteht die historische Chance, den baskischen Konflikt endlich zu beenden. Im März 2006 verkündete die ETA einen Waffenstillstand, in Madrid wurde von einem Friedensprozess wie in Nordirland gesprochen. Doch seitdem gibt es kaum Positives zu berichten: Zahlreiche linke baskische Organisationen sind weiterhin verboten, die Regierung Zapatero hat jedes noch so bescheidene Zugeständnis verweigert, die ETA bei einem Bombenanschlag im Dezember erneut zwei Menschen getötet.

Man kann gut verstehen, warum spanische Politiker, die Attentate überlebt haben, den Friedensbekundungen der ETA nicht trauen wollen. Aber umgekehrt ist ebenso einleuchtend, warum baskische Linke, die Opfer von Folter oder parapolizeilichen Anschlägen wurden, nicht an Spaniens Demokratie glauben.

Batasuna, die illegale, ETA-nahe Partei, hat vor wenigen Wochen vorgeschlagen, die Bewohner der baskischen Autonomieregion und Navarras in getrennten Referenden über den Status ihrer Regionen entscheiden zu lassen. Sie argumentiert, nicht ganz zu Unrecht, dass die demokratische Legitimität des jetzigen Status zweifelhaft ist. Die Verfassung wurde im Baskenland 1978 beim Referendum abgelehnt, das Autonomiestatut vor dem Hintergrund rechter Putschdrohungen angenommen, eine gemeinsame Autonomie für alle vier Provinzen mit baskischsprachiger Bevölkerung von Madrid untersagt. Es gehe in diesem Sinne, so Batasuna, um eine nachholende Demokratisierung, eine zweite Transición.

Menschenrechtsgruppen sprechen davon, dass Folter auf spanischen Polizeiwachen noch immer üblich ist

Der 70. Jahrestag der Bombardierung Gernikas, deren Überlebende bis heute nicht entschädigt worden sind, könnte ein Anlass sein, um über die Verantwortung Madrids im baskischen Konflikt nachzudenken. Die Gewalt geht eben nicht nur von der ETA aus. Eine Lösung des Konflikts wird es nur geben, wenn die politischen und historischen Ursachen beseitigt werden, die vor bald 60 Jahren zum Entstehen der ETA führten und ihr Weiterbestehen auch nach 1976 möglich gemacht haben.

RAUL ZELIK