ICE, ICE, Baby ...!

LEIDENSCHAFT Zwanzig Jahre gibt es den ICE erst – aber längst hat er eine unendliche Geschichte. Fünf Reiseberichte

 Der Termin: Am 29. Mai 1991 nahm die Bahn den ICE in Betrieb. Nach einer Sternfahrt aus verschiedenen Städten nach Kassel-Wilhelmshöhe erklärte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker „den Hochgeschwindigkeitsverkehr in der Bundesrepublik Deutschland“ für eröffnet.

 Das Tempo: ICE-Züge rasen mit bis zu 320 Stundenkilometern auf extra gebauten Hochgeschwindigkeitsstrecken durchs Land.

 Die Tragödie: Am 3. Juni 1998 entgleiste ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ nahe Eschede. 101 Menschen kamen ums Leben, 88 wurden schwer verletzt.

Wohnzimmer Unter Profis

Dann versinke ich in meinem Wohnzimmer und schließe die Augen. Ich höre Sophie Zelmanie oder Chopin. Kein Postler klingelt, keine Waschmaschine wird fertig, keine Nachbarin braucht ein Ei. Ich denke unwichtige Sachen oder nichts.

Wenn ich aufwache, steht ein freundlicher Mensch mit duftenden Brezeln oder frischem Kaffee neben mir. Ich frage dann: Sind wir schon in Hannover? In Kassel? In Bonn? Das mache ich nur, um zu zelebrieren, dass mein Wohnzimmer etwas Sensationelles kann. Es gleitet mit 200 Sachen durchs Land.

Der ICE ist eine rasende Ruhekapsel. Sobald ich sitze, entspanne ich mich. Natürlich braucht man Musik gegen die Nebengeräusche. Und den richtigen Platz. Ich reserviere nie. 2,50 Euro, um neben einem nervösen Eiersalatstinker zu landen?

Konzentration, Einsteigephase. Ich scanne die Fahrgäste: sächsischer Schnarchochse, hessischer Handyquassler – weiter. Dosenbiergeruch – weiter. Kaum besetzt – aber stickiges Binnenklima? Weiter. Jetzt muss ich zugreifen, gleich kommt die Schulklasse von vorhin auf dem Bahnsteig. Da ist er: Nebensitz nicht besetzt, Fahrtrichtung, weit und breit nur Profifahrer. Wie ich. 20 Jahre ICE-Erfahrung. Hach!

Ich habe etwas übersehen. Ein dummes, kleines Reisetäschchen vor dem Sitz. „Entschuldigen Sie, den Platz hatten wir schon …“ Ich springe auf, von vorn walzt die Schulklasse durch den Gang. Dann gehe ich eben. Ins Esszimmer. GEORG LÖWISCH

SPEISEWAGENOhne Seele

Das ICE-Bordrestaurant ist kein echter Speisewagen. Den Unterschied zum Original kann man im EC 170 von Berlin nach Budapest Keleti pu erleben, der oft einen Speisewagen aus den 1970er-Jahren mitführt.

Aus der Kombüse hört man ein immerwährendes Zischeln, Spritzen und Brutzeln. Fettige Schwaden ziehen durch den Speisewagen, in dessen purpurroten Polstern sich der Bratgeruch von hunderttausend Spiegeleiern, Schweinesteaks und Palatschinken festgesetzt hat. Fast alles wird frisch zubereitet, was jedoch nichts bedeutet. Nirgendwo kann es schlechter oder besser schmecken als im ungarischen Speisewagen. Alles hängt von der Laune des Obers und seines Kochs ab. Im ICE-Bordrestaurant ist es indes ruhig, wirkt alles clean und hell, hier gibt es keine zischelnden Bratgeräusche, keinen Fettdunst und keinen Koch und Ober.

Man hört nur hektische Geräusche, weil das freundliche Serviceteam permanent mit dem Bedienen von Mikrowellen und Heißluftöfen beschäftigt ist, die das vorgefertigte Convenience Food aufwärmen. Das Angebot nimmt die Zukunft der Gastronomie vorweg, Design und Marketing ersetzen den Inhalt.

Und so schmeckt es auch: clean und immer gleich. Die Images liefern Fernsehköche, die so ihre Bekanntheit steigern. Dabei macht man alles richtig, es gibt drei vegane Speisen, Biogerichte, alkoholfreies Weißbier und Bioriesling. Alles ist perfekt, doch die Seele fehlt. TILL EHRLICH

GANG Im Fluge

Mit dem ICE fahre ich nicht so häufig – aber wenn ich es tue, freue ich mich riesig darauf. Und bereite die Fahrt akribisch vor: Ich kümmere mich um die Zubringerzüge und um mögliche Baustellen, Streiks oder Wetterereignisse, die mein rechtzeitiges Erscheinen auf dem Bahnhof verhindern könnten; vor allem aber reserviere ich weit im Voraus einen Platz am Tisch im Großraumabteil.

Diesen Platz liebe ich: Hier kann ich Zeitungen ausbreiten und Stullen essen – die Preise im Zugrestaurant finde ich unverschämt.

Am liebsten aber gucke ich aus dem Fenster. Es ist wunderbar, wie Landschaften und Kleinstädte vorbeifliegen. Leider geht das häufig so rasch, dass man die Ortsschilder auf den Bahnhöfen nicht erkennt; dann gehe ich auf den Gang und schaue auf der Deutschlandkarte, wo der Zug gerade durchgedonnert ist.

Künftig muss ich vielleicht seltener auf die Karte schauen. Denn die Deutsche Bahn verabschiedet sich ein Stück vom Geschwindigkeitswahn. Ein Teil der neuen ICx-Flotte wird nur noch maximal 230 Kilometer pro Stunde schnell sein; der Rest bringt es auf 250. Höhere Geschwindigkeiten bleiben der ICE-3-Reihe vorbehalten. Wichtiger als die Geschwindigkeit war der Bahn bei ihrem Großauftrag über bis zu 300 ICx-Züge die Zuverlässigkeit. Sie sollen – besser als die anfällige ICE-2-Reihe – künftig extreme Sommerhitze ebenso aushalten wie Kälte und Flugschnee. Damit man sich bei jedem Wetter auf die Reise im ICE freuen kann. RICHARD ROTHER

MÜLLHALDE Im Unterhemd

Auf dem Bahnsteig spürt man Zugzwang. Am Freitag um 20.13 Uhr in Frankfurt kapiere ich, was es ist: Den Zug will ich, keinen anderen. Der nächste, ein City Night Line, braucht doppelt so lang bis Berlin.

Aber meinen ICE gibt es nicht. Langsam dringt es in mich: „Gestrichen.“ Cancelled. Als Ersatz: ein IC. Überbucht. Für Leute nach Kassel, nach Fulda schlägt der Lautsprecher anderes vor. Er warnt. Umsonst. Es ist Zugzwang.

Als der Zug einfährt, los, rein, nehmen, was kommt. Ich lande im Fahrradabteil. Mit mir Businessmen. In Anzug sitzen sie auf dem Boden, auf Klappsitzen, lehnen telefonierend an Fenstern. Ich ergatterte einen Flecken auf der Stufe zur Zugführerkabine. „Heiß hier.“ Die Klimaanlage funktioniert nicht. Sehr heiß.

Bahnchef Mehdorn, schuld an allem Möglichen, hat dann das Rauchen im ICE verboten

Wunder: Im Fahrradabteil steht eine Palette mit Wasser in Tetra-Paks. Nicht für uns. Trotzdem: Alle decken sich ein. Je heißer, desto mehr. Nach zwei Stunden tut der Hintern weh, und der Boden ist übersät mit leeren Kartons. Ein Gast schimpft. „Sie kriegen es nicht hin.“ Ein zweiter stimmt zu. Ein dritter: „Sie haben es geschafft, Ersatz zu organisieren.“ „Ohne Steckdosen“, der erste. „Mit Wasser“, der andere. Und so heiß. So heiß, dass ich im Unterhemd unter den Anzugträgern sitze. Im Müll.

In Kassel steigen Spanier zu. Auch sie lagern auf dem Boden, trinken Wasser, werfen die Kartons in die Ecken, rollen ihr R. In Berlin, Ankunft minutengenau, nimmt einer mit seiner Kamera die Uhrzeit und die Müllhaufen auf. „Welcome in Germany“, sagt er. WALTRAUD SCHWAB

Raucherabteil Im Entzug

Unweit der Triebköpfe brannten im ICE dereinst die kleinen Lagerfeuer der entwurzelten Reisenden. „Die Raucherabteile“ waren jeweils am Zugende positioniert – und man fand dort fast immer auch ohne Reservierung einen Sitzplatz. Nur ernsthafte Raucher buchten auch wirklich im Raucherabteil. Die anderen gaben sich stattdessen lieber clean und kamen in zwar klandestiner, aber auch regelmäßiger Absicht an die Enden des Zuges. Bedingt durch diesen Kasernierungs- und Konzentrationseffekt war die Luft dort tatsächlich zum Schneiden.

Bahnchef Mehdorn, schuld an allem Möglichen, hat dann das Rauchen im ICE verboten. Seitdem befinde ich mich im Widerstand und gehe ab und an – zumindest in Gedanken – auf eine Zigarette mit Manfred Schell, dem legendär dickköpfigen Lokführergewerkschafter, in die Behindertentoilette.

Rauchmelder gibt es im ICE (noch) nicht und man wird auch (noch) nicht des Landes verwiesen, wenn man dort beim illegalen Rauchen erwischt wird. Um sich vor Angriffen denunziationsbereiter Mitreisender zu schützen, empfiehlt sich folgender Trick: den Rauch in die Toilettenschüssel blasen und gleichzeitig den Abzug betätigen. Schlurps – der Qualm zieht effizient ab.

Wer regelkonform rauchen will, muss hingegen richtig gut vorbereitet sein: Es gilt im Vorfeld der Reise den eigenen Aufenthaltsort im Zug mit den eingezeichneten Raucherzonen (falls vorhanden) der Haltebahnbahnhöfe zu korrelieren. Viel Erfolg! Martin Reichert