Von torkelnden Häusern und fetten Autos

Er bläht Menschen und Gegenstände bis zur Unerträglichkeit auf, lässt Museen schmelzen und stellt Autos auf Filzstifte: Der österreichische Künstler Erwin Wurm, der vor allem durch seine absurden „One-Minute-Skulpturen“ bekannt wurde, zeigt in den Hamburger Deichtorhallen eine Retrospektive

VON PETRA SCHELLEN

Okay, geneigter Besucher, setz’ dich auf die rosa Spanplatte, mach’ den Rücken gerade und denk’ an Wittgenstein. Oder an Deleuze oder an deinen Vater. Hauptsache, du bleibst genau eine Minute sitzen und kollidierst nicht mit deinem Nebenmann, der an einem rosa Brett lehnt und über Adorno reflektiert. Danach kannst du gehen, wohin du willst. Deine Arbeit ist getan.

So in etwa funktionieren die One-Minute-Skulpturen des österreichischen Künstlers Erwin Wurm, der derzeit in den Hamburger Deichtorhallen eine Retrospektive seines über 25-jährigen Schaffens präsentiert.

Doch so vollgestellt, wie das da eben klang, ist die Ausstellung gar nicht. Denn zwar hat Kurator und Deichtorhallen-Chef Robert Fleck die gesamten 3.500 Quadratmeter der Nordhalle mit Fotos, Installationen und Skulpturen Erwin Wurms bespielt. Trotzdem hat er viel Luft gelassen zwischen den Exponaten, die teils vereinzelt, teils in kleinen Cocktailparty-Grüppchen in dem riesigen White Cube stehen. Wieder andere halten sich in den Kabinetten an den Seiten versteckt.

Zentrales Element der Schau ist ein wie aus dem All in die Deichtorhallen hineingekegeltes Haus, das Wurm eigens für die Hamburger Ausstellung schuf. Kopfüber und wie mitten im Purzelbaum gestoppt liegt es da. Gleich einem Meteoriten ist es auf den spiegelnd weißen Hallenboden gefallen. Zum Glück ist beim Aufprall nichts herausgebrochen – obwohl, ein bisschen unschlüssig liegt es schon da, auf der Dachkante; vielleicht überlegt es noch, wohin es als nächstes rollen soll.

Die Fensterhöhlen sind offen, und wer hineinschaut, bereut es schnell. Denn obwohl da drinnen nur ein biederbürgerliches Wohnzimmer ist, schwindelt’s einen sofort. Wie bei den unmöglichen Figuren M. C. Eschers sind Wände und Böden konsequent im falschen Winkel aneinander montiert, so dass es einem die Blickachse verdreht.

Fettes, sprechendes Auto

Mal kopfüber, mal im 45-Grad-Winkel liegen und stehen Teppiche und Möbel da. Surrealismus in 3-D. Und genau wie bei Escher, dessen Wasserfälle – geometrisch völlig logisch – nach oben fließen, kann man nicht erklären, woher das eigene Unwohlsein rührt. Man merkt nur, dass einem die Balance unter den Füßen weggleitet, und das für erstaunlich lange.

„Herr Krause kommt nach Hause nach der Sause“ lautet der lakonische Titel des Werks, an dessen Stelle ursprünglich ein anderes hatte stehen sollen: die Arbeit „House Attack“, ein Einfamilienhaus in Originalgröße, das 2006 als „Meteor“ ins Wiener Museum Moderner Kunst (MUMOK) einschlug. Es war leider zu groß, um an die Deichtorhallen montiert zu werden. Wie ein Blitz sollte das Häuschen – so die Idee – in die Welt des Kleinbürgers einschlagen. Es sollte zeigen – ja, was eigentlich? Dass das Leben eines jeden durch Eigenheim und Establishment-Denken aus den Fugen gerät? Dass der Traum vom Sesshaftsein unfrei macht?

Vielleicht ein bisschen von all dem, vielleicht auch ein Hauch Zivilisationskritik, zu besichtigen auch anhand des schon älteren „Fat House“ und des „Fat Convertible“, die weitere prominente Plätze in der Deichtorhalle besetzen. Ob es ein Haus oder ein Kunstwerk ist, fragt sich das Haus in einer ins Innere gestellten Video-Animation. Und das Auto lamentiert pausbäckig in einer fernen Kabine über das Verrinnen der Zeit.

Eine Persiflage auf das – vorerst noch – amerikanische Phänomen auto- und trägheitsbedingter Fettleibigkeit, begünstigt durch Siedlungen ohne Bürgersteige. Die schlichte, von Künstler sicher mitgedachte Assoziation vom „fetten Haus“ und „fetten Auto“ ermüdet hier eher und kommt ein bisschen altbacken daher.

Vielleicht hat Wurm hier auch den Mund zu voll genommen und karikiert sich selbst? „Der Künstler verschluckt die Welt“ heißt jedenfalls eine kugelrunde Figur, die aussieht, als könne man sie jederzeit umwerfen und lustvoll auf dem Boden kreiseln lassen. Vielleicht ist sie einem Zerrspiegel oder einem Kinderbaukasten entsprungen.

Erwin Wurm liebt solche Spiele mit sich blähenden Formen. Systole und Diastole, Ein- und Ausatmen sind zentrale Themen des immer ins Groteske zielenden Künstlers. Anleihen bei Kollegen – etwa bei Bruce Naumann, Robert Gober und Franz Erhard Walther – scheut er nicht. Überdies neigt er gelegentlich dazu, eigene gute Ideen bis zur Inflation wiederzukäuen. „Be good to your Curator“ heißt – in recht plakativer Anspielung auf die Abhängigkeit des Künstlers – eine Fotoserie von 2006. Abgebildet sind Ausstellungsmacher aus aller Welt, die irgendwie fettleibig wirken, weil sie ca. 37 Hemden übereinander angezogen haben. Und stimmt es, dass das Gesicht automatisch fülliger wirkt, nur weil der zugehörige Mensch so aufgeplustert ist? Man zweifelt, wie so oft bei Wurm, an seiner Wahrnehmung. Auch Deichtorhallen-Chef Fleck wurde in der Fotoserie übrigens nicht ausgespart: Stoisch steht er in einem der hinteren Kabinette auf den Knien Wurms; den morbiden Humor, das ist sicher, teilen die beiden Österreicher.

Doch bevor man in schlichte Nord-Süd-Klischees abgleitet, widmet man sich lieber den schmelzenden Gebäuden, die der Künstler in eins der Kabinette gestellt hat: Da zerfließt gemächlich ein Guggenheim-Museum wie ein Stück Eistorte. Und das Wurstbrötchen hat ein kleines Ufo-Einstiegstreppchen. Es dient als „Flying object to escape from Home“. Küche und Schlafzimmer von „Eiswerk – my studio“ hängen wie ein schlaffes Biskuit-Kuchenstück bereits von der Tischkante. Aus ist’s – Claes Oldenburg lässt grüßen – mit der markant-kantigen Form, die der jeweilige Architekt ersann. Zu Suppe, Asche, Staub kann es werden, ehe man sich versieht.

Und wer soll angesichts der ständig wechselnden, in jede beliebige Richtung zerfließenden Form noch definieren, was „normal“ ist? Wer will bestimmten, zu welchem Zeitpunkt der als „normal“ definierte Ursprungszustand herrschte? Heraklits Fließen, die von Buddhisten stets beschworene Veränderlichkeit aller Dinge, die ewige Unruhe der Evolution scheinen in diesen so banalen Werken auf – Witz und Erinnerung an die Vergänglichkeit zugleich.

Fließende Skulpturen

Denn für Erwin Wurm ist klar: Alles fließt – auch die Definition von Skulptur, die Wurm bewusst und konsequent mit Foto und Comic-Element vermischt – sei es in seinen ungelenk gekrickelten Anweisungen, sei es durch die zur Skulptur erstarrten Menschen. Von der dritten zurück in die zweite Dimension weisen wiederum die Fotos, die er von den menschlichen Ultrakurzzeit-Skulpturen machte. In Appenzell, Taipeh und Cahors hat Wurm Menschen gebeten, sich Pilze in die Nase zu stecken, in einen öffentlichen Papierkorb zu steigen oder Kopfstand in einem Blumentopf zu machen. In komplizierten Verschlingungen halten Frauen und Männer Stühle umfasst und werden – Arm innen, Bein außen – mit ihrem Kühlschrank eins.

Das Resultat: Im wahrsten Sinne karnevaleske Inszenierungen. Allerdings lacht kein einziger der Porträtierten. Das irritiert sehr – aber man kennt natürlich nicht das „Bild vorm Bild“ und wird daher niemals beurteilen können, ob sich Wurms Humor auch den Chinesen erschließt. Auch wie lange es gedauert hat, bis das mittels eines Filzstifts an die Deichtorhallen-Wand gelehnte Auto hielt, wird man nie erfahren. Und welche Lebensdauer den weißen Kisten zugedacht ist, deren Ecken auf echten Apfelsinen ruhen. Länger als die One-Minute-Sculptures halten solche Konstruktionen zweifellos.

Ob aber die Ausstellung und ihre Einfälle die nächste Dekade überleben werden, weiß man nicht. Denn so bezwingend jede einzelne Idee auch ist: Es macht einen Unterschied, ob man eine Situation, Skizzen produziert oder eine ganze Schau, die mehr roten Faden braucht als verschiedene Spielarten derselben Idee. Aber vielleicht ist die Kurzlebigkeit dieser Ausstellung gewollt. Vielleicht ist sie als Skizzen-Sammlung gedacht. Als Spot auf die Postmoderne, deren Vergänglichkeit sie kritisiert und zugleich kopiert. Revolutionär ist das nicht. Effektiv in Richtung One-Show-Publikum auf jedem Fall.

„Erwin Wurm: das lächerliche Leben eines ernsten Mannes. Das ernste Leben eines lächerlichen Mannes“, ist noch bis zum 2. 9. in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen